Der Stoff, aus dem unser Verstand entsteht / Bewusstsein II

A: Möchtest du noch etwas?

R: Ja, würdest du bitte Kaffee kochen?

A: Das mache ich!

R: Prima!

A: Der Kaffee ist bereit und ich schenke dir und mir einen frischen Kaffee in diese neuen Tassen ein und setze mich dir gegenüber hin!

R: Ich danke dir!

A: Deine Mahlzeit hat mir gefallen. Ich habe mit Freude das Spiegelei mit Tomaten gegessen und zuletzt den Schwarztee mit Honig genossen.

R: Es freut mich zu hören, dass das Essen dir gefallen hat!

A: Können wir mit dem Thema «Bewusstsein» beginnen?

R: Sicher!

A: Wir alle haben freien Zugang zu unserem Bewusstsein. Es perlt in unserem Kopf so leicht und reichlich, dass wir es ohne jedes Zögern und ohne Besorgnis jeden Abend nach dem Zubettgehen abschalten lassen, und wenn am Morgen der Wecker klingelt, lassen wir es wiederkehren – mindestens 365-mal im Jahr, Nickerchen nicht mitgerechnet. Und doch ist kaum etwas anderes an unserem Dasein so bemerkenswert, grundlegend und scheinbar rätselhaft wie das Bewusstsein!

R: Wir haben ein Bewusstsein, weil wir einen Geist haben. Der bewusste Geist spielt für die Lenkung des Verhaltens von Menschen eine wesentliche Rolle. Der bewusste Geist hinkt anscheinend dem Unbewussten sowohl im Handeln als auch in der Wahrnehmung hinterher. Der bewusste Geist ist vielmehr Beobachter unseres Handelns.

A: Würdest du bitte erklären, wieso unser bewusster Geist Beobachter unseres Handelns ist?

R: Wir leben in unserem bewussten Geist und stellen uns oftmals leicht vor, die Entscheidungen würden im Bewusstsein entstehen und das Bewusstsein würde dann die entsprechenden Befehle erteilen, um sie auszuführen. Wir entscheiden «Los, jetzt werfe ich diesen Ball», und dann geben wir an die Muskeln das Signal, den Ball zu werfen; kurz danach ist der Ball geworfen. Von dem Zeitpunkt an, zu dem ein Mensch sich einer Absicht, beispielweise einen Ball zu werfen, bewusst wird, hat er ungefähr eine Sekunde Zeit, die Aktion abzubrechen; dies kann bis zu 100 Millisekunden (also einer Zehntelsekunde) vor der Handlung geschehen, auch diese Effekte können sich unterhalb der bewussten Ebene abspielen, das heisst, unbewusste Effekte laufen ab, 200 Millisekunden, bevor sie sich auf die Wahrscheinlichkeit der Handlung auswirken. Der Beweis, dass vor Entstehung der bewussten Absicht (nach der noch ungefähr eine Sekunde bis zur Handlung vergeht) eine lange Kette unbewusster Neuronenaktivitäten abläuft.

A: Was sind Neuronen und was ist ihre Funktion?

R: Das Neuron ist eine Nervenzelle und ihre Aufgabe ist es, Informationen zu empfangen, zu verarbeiten und/oder an andere Zellen im Körper weiterzuleiten. Neuronen sind die Grundbausteine des Nervensystems.

A: Danke für die Erklärung! Erzähle weiter, ich höre dir gerne zu!

R: Das Bewusstsein ist das Wissen von sich selbst. Zu den verschiedenen Menschen und Gegenständen, über die ein intelligentes Wesen Informationen besitzen kann, gehört auch das Wesen selbst. Ich kann nicht nur Schmerzen empfinden und Rot sehen, sondern ich kann auch denken: «Hier, das bin ich, der Schmerzen fühlt und Rot sieht!».

A: Möchtest du noch einen Kaffee oder einen Tee?

R: Danke, jetzt nicht. Nun, ich kann lernen, den Arm zu heben und mir den Hals zu verrenken, um einen Fleck auf meinem Rücken anzusehen, warum also sollte ich nicht lernen können, einen Spiegel zu halten und hineinzublicken, um einen Fleck auf meiner Stirn anzusehen? Das ist das Wissen von sich selbst, einschliesslich der Fähigkeit, einen Spiegel zu benutzen!

A: Die Essenz des Bewusstseins ist das Erfahren und Wissen über sich selbst als Individuum.

R: Genau. Das Bewusstsein ist Zugang zu Informationen. Ich sage: «Was denkst du jetzt?» Darauf erzählst du mir den Inhalt deiner Tagträume, was du heute vorhast, welches Zipperlein dich plagt und welche Farben, Formen und Geräusche du wahrnimmst. Jedoch kannst du mir nichts über die Enzyme sagen, die dein Magen gerade ausscheidet, nichts über derzeitige Herz- und Atemfrequenzen, nichts über die Berechnungen in deinem Gehirn, durch die aus dem zweidimensionalen Netzhautbild dreidimensionale Formen werden, nichts über die Syntaxregeln, nach denen du beim Sprechen die Wörter anordnest, nichts über die Abfolge von Muskelkontraktionen, durch die du ein Glas in die Hand nehmen kannst. Dies zeigt, dass die Gesamtmenge der Informationsverarbeitung im Nervensystem sich in zwei Teile einteilen lässt.

A: Was sind diese zwei Teile der Informationsverarbeitung?

R: Eben, der eine, zu dem die Produkte des Gesichtssinnes und der Inhalt des Kurzzeitgedächtnisses gehören, ist dem System zugänglich, das den verbalen Berichten, dem rationalen Denken und der Entscheidungsfindung zugrunde liegt. Zu dem anderen gehören die autonomen Reaktionen, die internen Berechnungen hinter Sehen, Sprache und Bewegung sowie die unterdrückten Wünsche und Erinnerungen (falls welche vorhanden sind), und dieser Teil ist den zuvor genannten Systemen nicht zugänglich. Manchmal kann Information von dem ersten Bereich in den zweiten übergehen und umgekehrt. Wenn wir lernen, im Auto die Gangschaltung zu bedienen, müssen wir uns zunächst jede Bewegung genau überlegen, aber mit zunehmender Übung wird der Vorgang automatisiert. Andererseits können wir uns mit intensiver Konzentration und Biofeedback auch auf verborgene Empfindungen wie den eigenen Herzschlag einstellen. Und ich glaube, eines Tages, vermutlich bald, werden wir genauer wissen, was im Gehirn für das Bewusstsein im Sinne des «inneren Zugangs zur Information», was wir Zugangsbewusstsein nennen, verantwortlich ist.

A: Was ist Zugangsbewusstsein?

R: Zunächst einmal liegt auf der Hand, dass Information aus Sinneswahrnehmung und Erinnerungen das Verhalten nur bei einem wachen Lebewesen lenken kann, nicht aber bei einem, das narkotisiert ist. Demnach kann man also einen Teil der neuralen Grundlagen für das Zugangsbewusstsein in Gehirnstrukturen finden, die im Wachzustand anders funktionieren als im traumlosen Schlaf oder bei Bewusstlosigkeit. Für diese Rolle kommen die tieferen Schichten der Hirnrinde in Frage. Ausserdem wissen wir, dass die Informationen über einen wahrgenommenen Gegenstand sich auf viele Bereiche der Hirnrinde verteilen. Der Zugang zur Information erfordert also einen Mechanismus, der räumlich getrennte Daten verknüpft. Ein solcher Mechanismus könnte das «Feuern» der Neuronen sein, das vielleicht über Schleifen von der Hirnrinde zum Thalamus, dem zentralen Verschiebbahnhof des Gehirns, weitergeleitet wird. Ausserdem wird festgestellt, dass willkürliches, geplantes Verhalten die Tätigkeit der Stirnlappen erfordert. Das Zugangsbewusstsein könnte also durch die Anatomie der Leitungsbahnen festgelegt sein, die von verschieden Gehirnteilen zu den Stirnlappen laufen.

A: Was sind die Anhaltspunkte des Zugangsbewusstseins?

R: Das Zugangsbewusstsein hat vier offenkundige Merkmale:

Erstens sind wir uns in unterschiedlichem Umfang eines reichhaltigen Spektrums von Sinneswahrnehmungen bewusst: der Farben und Formen in der Welt um uns, der Geräusche und Gerüche, die uns umgeben, der Druck- und Schmerzempfindungen unserer Haut, Knochen und Muskeln.

Zweitens können Teile dieser Information in den Scheinwerferkegel der Aufmerksamkeit rücken, in das Kurzzeitgedächtnis wandern und es wieder verlassen und zu unserem abwägenden Denken beitragen.

Drittens haben Sinneswahrnehmungen und Gedanken eine emotionale Färbung: Sie sind angenehm oder unangenehm, interessant oder abstossend, aufregend oder beruhigend.

Und schliesslich scheint ein leitendes Organ, ein «Ich», Entscheidungen zu treffen und die Schalter des Verhaltens zu betätigen. Jedes dieser Merkmale verwirft einen Teil der Information im Nervensystem und definiert so die Bahnen des Zugangsbewusstseins. Und jedes hat seine eindeutige Rolle für die Anpassung und Organisation der Gedanken und Wahrnehmungen im Dienste rationaler Entscheidungen und Handlungen.

A: Das Zugangsbewusstsein, nämlich dessen Funktion, ist interessant!

R: Bewusste Information ist in ihren Folgerungen promiskuitiv, das heisst, sie legt sich nicht auf einen einzigen Akteur zur Informationsverarbeitung fest, sondern stellt sich vielen von ihnen zur Verfügung.

A: Was bedeutet es, kein Bewusstsein zu haben?

R: Ohne Bewusstsein ist die persönliche Sichtweise aufgehoben, wir wissen nichts von unserer Existenz, und wir wissen auch nicht, dass irgendetwas anderes existiert. Wenn sich das Bewusstsein nicht im Laufe der Evolution entwickelt und bis zu seiner menschlichen Version ausgeweitet hätte, dann hätte auch die Menschheit mit allen ihren Stärken und Schwächen, wie wir sie heute kennen, nicht entstehen können.

A: Deine Erklärung weist darauf hin, dass das Selbst-als-Objekt und das Selbst-als-Subjekt nicht getrennt sind, sondern durch Kontinuität und Fortentwicklung verbunden sind, weil das Selbst-als-Wissender auf dem Selbst-als-Objekt beruht!

R: Zweifellos! Jetzt habe ich Lust auf einen Kaffee!

A: Ich bereite den Kaffee zu!

R: Prima. Eben, das Bewusstsein besteht nicht nur aus geistigen Bildern. Es ist zumindest auch die Organisation geistiger Inhalte, die sich auf das Lebewesen, das diese Inhalte hervorbringt und fördert, konzentrieren!

A: Ich höre dir gerne weiter zu!

R: Bewusstsein in dem Sinn, in dem Autor und Leser es in jedem gewünschten Augenblick erleben können, ist mehr als nur ein Geist, der unter dem Einfluss eines lebenden, handelnden Organismus organisiert wird. Der Geist kann vielmehr auch wissen, dass ein solcher lebender, handelnder Organismus existiert. Dass dem Gehirn die Schaffung neuronaler Muster gelingt, welche die als Bilder erlebten Dinge kartieren, ist natürlich ein wichtiger Bestandteil des Bewusstwerdungsprozesses. Die Bilder in der Perspektive des jeweiligen Organismus auszurichten, gehört ebenfalls zu diesem Prozess. Es ist aber nicht dasselbe wie das automatische und explizite Wissen um Bilder, die in mir existieren, mir gehören und, wie heute man sagt, einklagbar sind. Wenn also kein weiterer Prozess ergänzend hinzukommt, bleibt der Geist unbewusst.

A: Der Kaffee ist bereit, ich stelle die Kaffeekanne auf den Tisch begleitet von zwei frischen Tassen und Zucker und Milch und ich setze mich hin!

R: Danke für den Kaffee!

A: Jetzt habe ich eine Frage.

R: Was ist deine Frage?

A: Was fehlt in einem solchen unbewussten Geist?

R: Bei einem solchen unbewussten Geist fehlt ein Selbst. Um bewusst zu werden, muss das Gehirn eine neue Eigenschaft annehmen, nämlich die Subjektivität. Ohne Bewusstsein, das heisst ohne einen mit Subjektivität ausgestatteten Geist, können wir nicht wissen, dass es uns gibt, ganz zu schweigen von der Frage, wer wir sind und was wir denken. Ein definierendes Merkmal der Subjektivität ist das Gefühl, das subjektiv erlebte Bilder durchtränkt.

A: Das kann wohl gesagt werden, dass wir bei der «Subjektivität» angekommen sind!

R: Sehr wohl. Wir können mit der Hilfe unseres Geistes und Bewusstseins die Zukunft simulieren. Wir können das morgige Gespräch mit dem Vorgesetzten bildlich konstruieren. Im Alltag machen wir ständig subjektive bewusste Erfahrungen. Die Inhalte des Bewusstseins sind stets subjektiv. Unter normalen Umständen variieren die Intensität der Subjektivitätsfunktion und der Grad der Bildintegration. Wenn wir leidenschaftlich in eine Erzählung eintauchen, um sie zu erleben, kann die Subjektivitätsfunktion äusserst subtil sein. Sie ist immer da und steht bereit, um ihre zentrale Rolle sofort zu übernehmen. Wenn wir ganz von der Handlung eines Films und seinen Charakteren absorbiert werden, denken wir nicht unbedingt an uns selbst und lenken unsere Freude und Anteilnahme ganz auf das Sujet des Films.

A: Es sieht so aus, dass die Subjektivität einer kognitiven Struktur gleicht, in der unser Alltagswissen organisiert wird!

R: Auf jeden Fall. Bemerkenswert ist jedoch, wenn in einem Augenblick ein Wort oder ein Ereignis im Film mit der eigenen Erfahrung verbunden wird und eine Reaktion hervorruft: einen Gedanken, eine emotionale Antwort und ein bestimmtes Gefühl. Unser «Subjekt» gerät in einen Zustand der Ausgeglichenheit; wir erleben in dem Moment die Themen der handelnden Charaktere, die unsere eigene Präsenz stärker ins Bewusstsein holen. Das ist noch mehr der Fall, wenn wir die volle Kontrolle über die Zeit haben, die benötigt wird, um das Material zu verarbeiten. Das ist, was passiert, wenn wir einen Roman oder ein Sachbuch lesen, das unsere Aufmerksamkeit komplett absorbiert. Wir können nach Belieben mit dem Gedankenmaterial arbeiten, was beim Filmschauen nur passiert, wenn wir die Handlung des Zuschauers aufgeben und uns vom Bildschirm abwenden. Das klassische Erlebnis von Film, Musik und Realität entfaltet eine Wirkung prägnant im Augenblick. Wer freier sein will in seinen Gedankenassoziationen, hält sich besser an die Literatur.

A: Danke für deinen Hinweis und ich werde ihn mir merken!

R: Ich muss schon darauf hinweisen, dass die Bilder des Inneren eine Doppelfunktion erfüllen. Einerseits tragen sie zur Multimediashow des Bewusstseins bei: Man kann sie als Teil des Bewusstseinsschauspiels beobachten. Andererseits leisten diese Bilder dennoch auch einen Beitrag zum Aufbau der Gefühle und helfen auf diese Weise bei der Erzeugung der Subjektivität als solcher, jener Eigenschaft des Bewusstseins, die es uns erlaubt, überhaupt erst Zuschauer zu werden. Das mag auf den ersten Blick verwirrend oder sogar paradox erscheinen, jedoch das ist es nicht. Die Prozesse sind ineinander verschachtelt. Gefühle liefern die Qualia-Elemente, nämlich die nicht kommunizierbaren subjektiven Erfahrungsinhalte, die in die Subjektivität einfliessen. Die Subjektivität schafft ihrerseits die Möglichkeit, Gefühle als spezifische Objekte im bewussten Erleben einer Prüfung zu unterziehen. Das scheinbare Paradox macht deutlich, dass wir nicht über die Physiologie des Bewusstseins diskutieren können, ohne Bezug auf die Gefühle zu nehmen, und umgekehrt.

A: Es scheint, dass die Subjektivität ein unverzichtbarer Bestandteil des Bewusstseins ist!

R: Allerdings! Lassen wir die auffälligsten Bilder des bewussten Geistes, die den Inhalt der Geschichten bilden, einmal beiseite und konzentrieren wir uns auf jene, aus denen der entscheidende Helfer des Bewusstseins besteht: also die Subjektivität. Ich kann nur deshalb alles beschreiben, was in meinem Geist abläuft, und umgangssprachlich sagen, es sei «mir bewusst», weil die Bilder, die meinen Geist bevölkern, automatisch zu meinen Bildern werden, zu Bildern, denen ich mich widmen und die ich mit mehr oder weniger Anstrengung und Klarheit betrachten kann. Ohne dass ich einen Finger rühren oder um Hilfe bitten müsste, weiss ich, dass die Bilder mir gehören, dem Besitzer meines Geistes und des Körpers, in dem mein Geist erzeugt wird, während ich, der Eigentümer des lebenden Organismus, den ich bewohne, dies schreibe und ausdrücke!

A: Was geschieht, wenn die Subjektivität verschwindet?

R: Wenn die Subjektivität verschwindet – wenn der rechtmässige Eigentümer, nämlich das Subjekt, nicht mehr automatisch Anspruch auf die Bilder im Geist erhebt, funktioniert das Bewusstsein nicht mehr vollumfänglich. Würde man mich oder den Leser daran hindern, die offenkundigen Inhalte des Geistes aus subjektiver Perspektive zu betrachten, würde dieser Inhalt ohne Verankerung herumschweben und eigentlich niemandem gehören. Wer wüsste, dass sie existieren? Das Bewusstsein würde verschwinden, und mit ihm auch die Bedeutung des Augenblicks. Das Gefühl des Seins wäre ausgesetzt.

A: Unter welchen Umständen wird die Subjektivität hervorgerufen?

R: Faszinierenderweise kann ein einfacher Kunstgriff – der Subjektivitätstrick oder Eigentümertrick, wie man auch sagen könnte – die Bilderzeugungstätigkeit des Geistes in sinnvolle, Orientierung bietende Inhalte verwandeln oder schlicht durch sein Fehlen das gesamte Projekt des Geistes nahezu nutzlos machen. Wenn wir verstehen wollen, wie Bewusstsein aufgebaut wird, müssen wir in jedem Fall begreifen, wie Subjektivität entsteht. Denn Subjektivität ist natürlich kein Ding, sondern ein Prozess, und dieser Prozess basiert auf zwei entscheidenden Zutaten, und zwar dem Aufbau einer Perspektive für die geistigen Bilder sowie der Begleitung dieser Bilder durch Gefühle.

A: Wie werden die geistigen Bilder aufgebaut?

R: Wenn wir «sehen», erscheinen die offenkundigen visuellen Inhalte in unserem Geist aus der Perspektive unseres Standpunktes, insbesondere ungefähr aus der Perspektive unserer Augen, wie sie in unserem Kopf angeordnet sind. Genau das Gleiche geschieht in unserem Geist auch mit akustischen Bildern. Sie bilden sich aus der Perspektive unserer eigenen Ohren, aber nicht aus der Perspektive der Ohren einer anderen Person, die sich uns diagonal gegenüber befindet, und übrigens auch nicht aus der Perspektive unserer Augen. Gleiches gilt für taktile Bilder: Sie haben genau die Perspektive unserer Hand, unseres Gesichts oder jeder anderen Körperstelle, die in unmittelbaren Kontakt mit dem berührten Gegenstand kommt. Und natürlich riecht man mit der Nase, und man schmeckt mit den Geschmacksknospen. Diese Tatsachen sind von entscheidender Bedeutung, wenn wir die Subjektivität verstehen wollen.

A: Ist die Subjektivität die funktionale Eigenschaft von Merkmalen für eine vorteilhafte Verhaltenssteuerung?

R: Ohne Zweifel. Einen der wichtigsten Beiträge zum Aufbau der Subjektivität leisten die Sinnesportale: Dort finden wir die Organe, die für die Erzeugung von Bildern der Aussenwelt verantwortlich sind. Jede Sinneswahrnehmung ist in ihren ersten Stadien von einem Sinnesportal abhängig. Ein Musterbeispiel sind die Augen und der zugehörige Apparat: Die Augenhöhlen nehmen eine ganz bestimmte, begrenzte Region im Körper, im Kopf, ja sogar im Gesicht in Anspruch. Sie haben in der dreidimensionalen Karte unseres Körpers, dem vom Muskel-Skelett-Gerüst definierten Phantomkörper, festgelegte GPS-Koordinaten.

A: Das heisst: Die Subjektivität bedeutet unser Erleben sowie unsere Erfahrung!

R: Bestimmt. Der Prozess des Sehens ist weitaus komplexer als die Projektion von Lichtmustern auf die Netzhaut. Das «hochwertige» Sehen beginnt in der Netzhaut und setzt sich über mehrere Stadien der Signalübertragung und Signalverarbeitung bis in die dem Sehen gewidmeten Areale der Grosshirnrinde fort. Aber um zu sehen, muss man zunächst einmal hinsehen. Das Hinsehen besteht aus vielen Einzeltätigkeiten, und diese Tätigkeiten werden nicht durch die Netzhaut oder die Sehrinde ausgelöst, sondern durch eine komplizierte Gruppe von Vorrichtungen in den Augen und um sie herum. Jedes Auge hat – ganz ähnlich wie eine Kamera – einen Verschluss, eine Blende, die darüber bestimmt, wie viel Licht zur Netzhaut vordringen kann.

A: Möchtest du ein Glas Wasser?

R: Gerne!

A: Ich schenke dir ein Glas Wasser ein!

R: Ich danke dir!

A: Keine Ursache, ich höre dir gerne zu!

R: Ausserdem gibt es, wiederum wie bei einer Kamera, eine Linse. Sie kann sich automatisch anpassen und Objekte scharf stellen; damit ist sie unsere eigene Autofokusausrüstung. Und schliesslich bewegen sich die Augen gemeinsam in verschiedene Richtungen: nach oben, unten, links und rechts. Auf diese Weise können wir nicht nur das Universum vor uns, sondern das Universum in unserer Umgebung überblicken und visuell einfangen, ohne dass wir den Kopf oder den Körper bewegen müssten. Alle diese Vorrichtungen werden ständig von unserem somatosensorischen System wahrgenommen, und sie produzieren die zugehörigen somatosensorischen Bilder.

A: Was geschieht mit den Bildern, wenn es kein Selbst gibt?

R: Wenn auch kein Selbst erzeugt wird, sind die Bilder dennoch da: Es erweckt den Eindruck, dass niemand innerhalb oder ausserhalb des Organismus von der Existenz der Bilder weiss. Subjektivität ist nicht erforderlich, damit geistige Zustände existieren können, sondern nur dafür, dass man privat von ihnen weiss.

A: Es ist beeindruckend, erzähle bitte weiter!

R: Zur gleichen Zeit, zu der wir ein visuelles Bild konstruieren, erzeugt unser Gehirn auch Bilder der vielen Bewegungen, die von diesen komplizierten Apparaten ausgeführt werden. Auf möglichst selbstbezogene Weise setzen sie den Geist mittels der Bilder darüber in Kenntnis, was Gehirn und Körper gerade tun, und sie «lokalisieren» diese Tätigkeiten im Phantomkörper. Die Bilder des Phantomkörpers sind subtil und gehören zur Zuschauerseite der Show. Sie sind nicht so lebhaft wie jene, die wir in der Bewusstseinsshow beschreiben. Die Informationen über die Bewegungen und Anpassungen, die zum «Hinsehen» notwendig sind, werden von ganz anderen Gehirnsystemen in Empfang genommen als die eigentlichen visuellen Bilder, auf denen das «Sehen» basiert. Der Apparat für das «Hinsehen» ist nicht in den Sehrindarealen angesiedelt.

A: Deine Beschreibung deutet darauf hin, dass mehrere Bewusstseinsgeneratoren im Spiel sind, die den Prozess, der mit einem Erkennenden und mit einem Objekt befasst ist, hervorrufen!

R: Unser Wissen trägt dazu bei, den Reichtum des menschlichen Geistes zu erklären, jenes gewaltige Panorama, zu dem wir Zugang haben, wenn der Geist durch die vielfältigen Selbst-Prozesse das Bewusstsein erlangt!

A: Verblüffend, sozusagen eindrucksvoll, ich höre dir gern zu!

R: Denken wir jetzt einmal an die ungewöhnliche Situation, um die es hier geht: Ein Teil des eigenen Subjektivitätsprozesses ist aus demselben Holz geschnitzt, aus dem wir auch die offenkundigen, in der Subjektivität festgehaltenen Inhalte konstruieren, das heisst, genauer gesagt, die Bilder. Aber auch wenn das Holz das Gleiche ist, stammt es aus einer anderen Quelle. Die Bilder, um die es hier geht, entsprechen nicht den Objekten, Tätigkeiten oder Ereignissen, die normalerweise das Bewusstsein dominieren, sondern allgemeinen Bildern unseres Körpers, die während der Tätigkeit, diese anderen Bilder zu produzieren, festgehalten wurden. Diese neuen Bilder offenbaren teilweise den Prozess, durch den die offenkundigen Inhalte des Geistes nachdrücklich und in aller Stille parallel zu diesen anderen Bildern eingeprägt werden. Die neue Bildergruppe wird in demselben Körper erzeugt, dem auch die offenkundigen Inhalte gehören, die jetzt auf der Grossleinwand unseres Gehirns gezeigt werden, und das Bewusstsein sorgt dafür, dass wir sie besitzen und einschätzen können. Die neuen Bilder beschreiben nichts weniger als den Körper ihres Eigentümers während des Prozesses, durch den er die anderen Bilder erwirbt, aber solange man ihnen nicht grosse Aufmerksamkeit schenkt, bemerkt man sie kaum.

A: Intelligenz und Bewusstsein sind nichts anderes als Datenverarbeitung. Unser inneres Erlebnis ist in Wirklichkeit das einzige Erleben!

R: Gewiss. Durch diese Gesamtstrategie entsteht eine komplexe Mischung aus (a) den grundlegenden Bildern, die wir erleben und im Geist als entscheidend für den derzeitigen Augenblick unseres Lebens interpretieren, und (b) den Bildern unseres eigenen Organismus, der gerade dabei ist, die unter (a) genannten Bilder zu erzeugen. Dem zweiten Aspekt schenken wir wenig Aufmerksamkeit, obwohl er für den Aufbau des Subjekts von entscheidender Bedeutung ist. Unsere Aufmerksamkeit sparen wir vielmehr für die neu geschaffenen Bilder auf, die den grundlegenden Inhalt des Geistes beschreiben, jenen Inhalt, mit dem wir umgehen müssen, wenn wir weiterleben wollen.

A: Das heisst: Unser Bewusstsein beinhaltet unser subjektives Erlebnis sowie unsere phänomenale Erfahrung. Damit ist die subjektive Wahrnehmung der Welt gemeint, nicht ihre objektive Wirklichkeit.

R: Zweifellos. Das ist einer der Gründe, warum die Subjektivität und, allgemeiner gesagt, der Prozess des Bewusstseins nach wie vor ein solches Rätsel ist. Die Fäden des Puppenspielers bleiben bequemerweise verborgen, und das sollten sie auch. Nichts davon erfordert irgendwelche Homunculi oder rätselhafte Magie. Es ist so natürlich und einfach, dass man nichts Besseres tun kann, als respektvoll zu lächeln und den Erfindungsreichtum des Prozesses zu bewundern.

A: Was geschieht, wenn die Bilder, die durch unseren Geist fliessen, nicht der augenblicklichen Wahrnehmung entstammen, sondern aus dem Gedächtnis abgerufen werden?

A: Auch hier gilt die gleiche Beschreibung. Wenn erinnerte Informationen in den Inhalt des Geistes eingefügt werden, mischen sie sich unter die laufenden augenblicklichen Wahrnehmungen, und spätere, vollständig in einem Rahmen stehende, personalisierte Informationen bilden den «Anker», der für die persönliche Perspektive notwendig ist.

A: Würdest du es bitte veranschaulichen?

R: Stellen wir uns vor, es gebe in der fernen Zukunft ein hochintelligentes Mädchen namens Mary, das vollkommen farbenblind ist. Von Geburt an sieht sie alles in ihrer Welt schwarz-weiss. Ihr Zustand stellt auch die angesehensten Ärzte vor ein Rätsel, und deshalb gelangt Mary zu dem Schluss, es liege an ihr, die Sache aufzuklären. Getrieben von dem Traum, die Störung zu heilen, macht Mary sich an jahrelange eingehende Untersuchungen, Beobachtungen und Experimente. Mit alldem wird Mary zur grossartigsten Neurowissenschaftlerin, welche die Welt jemals gesehen hat, und erreicht ein Ziel, das der Menschheit lange verschlossen geblieben war: Sie erklärt Struktur, Funktion, Physiologie, Chemie, Biologie und Physik des Gehirns bis ins letzte Detail. Sie weiss absolut alles, was es über die Funktionsweise des Gehirns, über seine Gesamtorganisation ebenso wie über seine mikrophysikalischen Prozesse zu wissen gibt. Sie versteht alle Nervenimpulse und Teilchenlawinen, die ausgelöst werden, wenn wir über einen tiefblauen Himmel staunen, uns über eine saftige Pflaume freuen oder uns in der Dritten Symphonie von Brahms verlieren.

A: Eine beeindruckende Geschichte!

R: Mit ihren Leistungen findet Mary auch eine Heilung für ihre Sehbehinderung und unterzieht sich dem chirurgischen Eingriff, um sie zu beheben. Monate später sind die Ärzte so weit, dass sie die Augenbinde abnehmen können, und Mary ist darauf vorbereitet, die Welt ganz neu zu sehen. Sie steht vor einem Strauss mit roten Rosen und öffnet langsam die Augen. Nun die Frage: Wird Mary durch dieses erste Erlebnis mit der Farbe Rot irgendetwas Neues erfahren? Wird sie zu einem neuen Verständnis kommen, weil sie die Farbe endlich in ihrem Inneren erlebt?

A: Fragst du mich?

R: Ja, was denkst du darüber?

A: Wenn wir diese Geschichte im Kopf durchspielen, scheint es uns vollkommen klar zu sein, dass Mary überwältigt sein wird, wenn sie zum ersten Mal in ihrem Inneren die Empfindung von Rot erlebt. Offensichtlich liegt es auf der Hand, dass dieses erste direkte Farberlebnis ihr Verständnis für die Wahrnehmung der Menschen und die Reaktionen, die sie im Inneren auslösen kann, erweitert!

R: Bist du sicher?

A: Ich glaube schon, Mary hat alles gelernt, was es über die physischen und physikalischen Funktionen des Gehirns zu wissen gibt. Und doch hat sie mit diesem einen Erlebnis ihr Wissen offensichtlich erweitert. Sie hat Wissen über das bewusste Erlebnis gewonnen, das die Reaktion des Gehirns auf die Farbe Rot begleitet!

R: Als ich diese Schilderung, nämlich die Geschichte von Mary, las, spürte ich plötzlich eine Verbundenheit mit ihr, als hätte ich mich einer Operation unterzogen, die mir ein zuvor verschlossenes Fenster zum Wesen des Bewusstseins eröffnet hatte. Meine leichtfertige Überzeugung, die physikalischen Prozesse im Gehirn seien das Bewusstsein, Bewusstsein sei die Empfindung solcher Prozesse, war plötzlich erschüttert. Mary besass alle nur denkbaren Kenntnisse über sämtliche physischen und physikalischen Prozesse im Gehirn, und doch scheint das Szenario klar zu besagen, dass solche Kenntnisse unvollständig sind. Wenn es also um bewusstes Erleben geht, kann man vermuten, dass die physikalischen Prozesse zwar ein Teil der Geschichte sind, aber nicht alles.

A: Was du nicht sagst!

R: Die vollständigen Kenntnisse über die physische bzw. physikalische Funktionsweise des Gehirns lassen etwas aus. Sie können subjektive Empfindungen nicht offenlegen oder erklären. Wären solche physikalischen Kenntnisse allumfassend, hätte Mary die Binde abgenommen und nur mit den Schultern gezuckt.

A: Wir sind es so gewohnt, durch unmittelbares Erleben Erkenntnisse über die Welt zu gewinnen und beispielweise zu begreifen, wie es sich anfühlt, Rot zu empfinden, wenn wir Rot sehen, dass wir stillschweigend davon ausgehen, solche Erlebnisse seien der einzige Weg, um derartiges Wissen zu erwerben.

R: Der Philosoph Daniel Dennett erklärt, wir sollten genau überlegen, welche Folgerungen sich aus Marys erschöpfender Kenntnis der physikalischen Tatsachen ergeben. Seine Hauptaussage lautet: Die Vorstellung eines vollständigen physisch-physikalischen Wissens ist uns so vollkommen fremd, dass wir gewaltig unterschätzen, welche Erklärungskraft es besässe. Mit einem solchen allumfassenden Verständnis von der Physik des Lichts über die Biochemie der Augen bis zu den neurologischen Vorgängen im Gehirn, so Dennett, wäre Mary tatsächlich in der Lage, die innere Empfindung von Rot zu erfassen, lange bevor sie sie erlebt. Wenn man die Binde entfernt, würde Mary vielleicht auf die Schönheit der roten Rosen reagieren, aber wenn sie die rote Farbe sieht, wird dies schlicht ihre Erwartungen bestätigen.

A: Legen wie eine Pause ein?

R: Das machen wir!

 

 

 

Quellen

Blackmore, Susan. Bewusstsein. Bern: Hans Huber, 2014.

Damasio, Antonio. Selbst ist der Mensch. München: Siedler, 2013.

Damasio, Antonio. Im Anfang war das Gefühl. München: Siedler, 2017.

Detel, Wolfgang. Grundkurs Philosophie. Band 3. Philosophie des Geistes und der Sprache. Ditzingen: Reclam, 2022.

Görnitz Thomas & Görnitz, Brigitte. Von der Quantenphysik zum Bewusstsein. Berlin Heidelberg: Springer, 2016.

Greene, Brian. Bis zum Ende der Zeit. München: Siedler, 2020. 

Pinker, Steven. DENKEN. Frankfurt am Main: Fischer, 2018.

Trivers, Robert. Betrug und Selbstbetrug. Berlin: Ullstein, 2013.