GFK – Beobachtungen

A: Guten Morgen!

R: Guten Morgen, hast du ausgeschlafen?

A: Ja, so gut, wie noch nie!

R: Möchtest du einen Tee?

A: Sehr gerne!

R: Ich schenke dir einen frischen Tee ein!

A: Danke dir. Unser gestriges Gespräch über die gewaltfreie Kommunikation hat mir gefallen. Vertiefen wir heute das Thema noch?

R: Sicher, wir besprechen die erste Komponente nämlich die Beobachtungen.

A: Ich trinke noch einen Tee und höre dir gerne zu!

R: Ein wichtiger Aspekt der gewaltenfreien Kommunikation ist die Fähigkeit, zu beobachten, was Menschen tun, ohne eine Bewertung in die Beobachtung mit einschliessen zu lassen, was dann wie eine Kritik klingen könnte. Menschen, die eine Kritik hören, neigen eher dazu, sich abzuwehren. Die Fähigkeit in der gewaltfreien Kommunikation besteht darin, dass wir zwischen unseren Beobachtungen und unseren Bewertungen immer ordnungsmässig trennen können. Als Beobachtung wird das bezeichnet, was wir sehen, hören oder berühren können, etwas, das man mit einer Kamera aufzeichnen kann. Eine Beobachtung beschreibt. Bei einer Einschätzung oder Bewertung ziehen wir aus den Dingen, die wir beobachten, Schlüsse.

A: Es ist einfacher gesagt, als gemacht! Es ist schwierig, Menschen und deren Verhalten in einer Weise zu beobachten, die frei von Verurteilung, Kritik oder anderen Formen der Analyse ist.

R: Gewaltfreien Kommunikation beinhaltet nicht, dass wir völlig objektiv bleiben und Bewertungen völlig vermeiden. Wir können anderen Menschen durchaus sagen, was wir bei dem Beobachteten empfinden und was wir daran schätzen. Beobachtung heisst also, einer anderen Person mitzuteilen, was uns nicht gefällt, ohne ihr Verhalten zu bewerten. Eine klare Beobachtung heisst: Halte dich einfach an die Tatsachen.

A: Würdest du bitte ein Beispiel machen?

R: Ein Mann sagt zu seiner Frau: „Du kannst einfach nicht mit Geld umgehen.“ Und sie sagt: „Immer musst du mich kontrollieren.“ Das sind keine Beobachtungen. Das sind Interpretationen und Bewertungen eines Verhaltens.

A: Wie können wir überhaupt durchs Leben gehen, ohne Dinge zu bewerten? Urteilsvermögen ist doch eine überlebenswichtige Fähigkeit!

R: Du hast recht. Auf jeden Fall ist es sehr wichtig, dass wir eine Form der Bewertung finden, die dem Leben dient. Wenn ich zum Beispiel das Verhalten eines anderen Menschen bewerte, kann ich das tun, ohne mich über ihn zu stellen sprich nicht anzufangen, dessen Verhalten als richtig oder falsch einzuschätzen. Es ist nicht einfach, unsere alten Gewohnheiten abzulegen und die Fähigkeit zu meistern, Beobachtungen von Bewertungen zu trennen.

A: Ich bereite den Tee vor, möchtest du Einen?

R: Ja, gerne! Aus meiner Sicht ist die Grundidee der gewaltfreien Kommunikation ganz einfach, praktisch und überall nutzbar. Erstens: Beobachte dich selbst – was ist lebendig in dir? Und zweitens: Wodurch würde sich deine Lebensqualität verbessern, was würde dein Leben bereichern? Lerne diese beiden Dinge zu kommunizieren, ehrlich, ohne jegliche Kritik. Es sind nur diese beiden Fragen. Es geht darum, sie gegenüber anderen Menschen auszudrücken und entsprechende Informationen von seinem Gegenüber empathisch aufzunehmen.

A: Ich schenke dir einen Tee ein, stelle ihn auf den Tisch und höre dir zu!

R: Danke für den Tee. Sprachforscher weisen daraufhin, dass wir uns selbst viele Probleme schaffen, indem wir eine gleichbleibende und unwandelbare Sprache verwenden, um eine Wirklichkeit, die im ständigen Wandel begriffen ist, auszudrücken oder einzufangen.

A: Die Sprache ist ein Kommunikationsmittel!

R: Bestimmt. Dennoch ist unsere Sprache ein unvollkommenes Instrument, das von unwissenden Menschen in grauer Vorzeit geschaffen und gebraucht wurde. Es ist eine animistische Sprache, die dazu einlädt, über Stabilität und Konstanten zu sprechen, über Ähnlichkeiten, Normalitäten und Arten, über magische Transformationen, schnelle Heilungen, einfache Probleme und endgültige Lösungen. Die Welt jedoch, die wir mit dieser Sprache beschreiben wollen, hat sich inzwischen sehr verändert. Sie ist jetzt bestimmt von Prozessen, Veränderungen, Unterschiedlichkeiten, Dimensionen, Funktionen, Beziehungen, Wachstum, Interaktionen, Entwicklungen, Lernen, Herausforderungen und Komplexität. Ein Teil unseres Problems ist die Tatsache, dass unsere sich ständig wandelnde Welt und unsere relativ statische Sprache ein ungleiches Paar sind.

A: Würdest du bitte einige Sätze darstellen, die die Unterschiede zwischen Bewertung und Beobachtung verdeutlichen?

R: Wir gehen spazieren. Ein Strassenmusiker spielt Geige. Ich gebe ihm 20 Franken. Du sagst mir: „Du bist zu grosszügig.“ Dieser Satz ist Beobachtung vermischt mit Bewertung. Nach einer Stunde kehren wir den gleichen Weg zurück und ich gebe dem gleichen Strassenmusiker wieder 20 Franken. Aber sagst du mir dieses Mal: „Wenn du dem Strassenmusiker 20 Franken gibst, dann finde ich, dass du zu grosszügig bist.“ Dieser Satz ist Beobachtung getrennt von Bewertung.

A: Die Trennung zwischen Beobachtung und Bewertung ist keine leichte Sache!

R: Die beste Möglichkeit, den Unterschied zwischen Beobachtungen, die wirklich reine Beobachtungen sind, und Beobachtungen, die Bewertungen enthalten, herauszuarbeiten, besteht darin, die beiden Möglichkeiten mit Hilfe einer Tabelle wie der folgenden zu vergleichen:

 

Beispiele für die Vermischung von Beobachtung und BewertungBeispiele für die Trennung von Beobachtung und Bewertung
Markus schiebt die Dinge vor sich her.Markus lernt für seine Prüfung erst am Abend vorher.
Sabrina schafft ihre Arbeit bestimmt nicht.Sabrina ist mit ihrer Arbeit nicht fertig geworden.
Wenn du dich nicht ausgewogen ernährst, nimmt deine Gesundheit Schaden.Wenn du dich nicht ausgewogen ernährst, befürchte ich, dass deine Gesundheit vielleicht Schaden nimmt.
Peter ist ein schlechter Fussballspieler.Peter hat die letzten 20 Spiele kein Tor mehr geschossen.
Beat ist hässlich.Beats Äusseres zieht mich nicht an, oder ich empfinde Beats Aussehen nicht als besonders attraktiv.
Die Nachbaren kümmern sich nicht um ihr Eigentum.Ich habe noch nie miterlebt, dass die Nachbarsfamilie, die im Haus an der Ecke wohnt, den Schnee auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus wegschaufelt.

 

A: Die Tabelle ist informativ. Ich werde bei den Interaktionen und Kontakten mit den Anderen eine Beobachtung ohne Voreingenommenheit mit einbeziehen. Das ist mein neues Ziel, das ich im Auge behalte. Erzähle weiter!

R: Die Wörter immer, nie, jemals, jedes Mal, drücken eine Beobachtung aus, wenn sie wie folgt angewendet werden:

  • Jedes Mal, wenn ich Sandra am Telefon beobachtet habe, hat sie mindestens 30 Minuten lang telefoniert.
  • Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du mir jemals aus dem Urlaub geschrieben hast.

A: Interessante Hinweise!

R: Manchmal werden solche Wörter als Übertreibung benutz. In dem Fall vermischen sich dann Beobachtungen mit Bewertungen:

  • Du bist immer fleissig.
  • Sie ist nie da, wenn man sie braucht

A: Möchtest du noch einen Tee?

R: Sehr gerne!

A: Ich werde den Tee zubereiten, erzähle weiter!

R: Wörter wie häufig und selten können auch dazu führen, dass Beobachtung mit Bewertung verwechselt wird:

 

BewertungBeobachtung
Du machst selten das, was ich möchte.Die letzten drei Male, wo ich eine Unternehmung vorgeschlagen habe, hast du gesagt, du hättest keine Lust dazu.
Der Zeitungsausträger verteilt häufig die Zeitungen.Der Zeitungsausträger verteilt die Zeitungen dreimal die Woche.

 

A: Der Tee ist bereit, ich gebe dir Einen!

R: Danke für den Tee, er riecht gut!

A: Übung macht den Meister. Was meinst du? Können wir die Beobachtung ohne Bewertung üben?

R: Auf jeden Fall. Ich konstruiere die Sätze während du sie analysierst, bist du einverstanden?

A: Ja!

R: Der erste Satz: „Patric war gestern völlig grundlos wütend auf mich.“

A: Ich halte „grundlos“ für eine Bewertung. Darüber hinaus halte ich auch die Schlussfolgerung, dass Patric wütend war, für eine Bewertung. Er kann sich auch verletzt, traurig, ängstlich oder anders gefühlt haben. Beispiele für Beobachtungen ohne Bewertungen können so klingen: „Patric hat mir gesagt, dass er wütend war“, oder: „Patric hat mit der Faust auf den Tisch geschlagen.“

R: Der zweite Satz: „Gestern Abend hat Helen beim Fernsehen an ihren Nägel gekaut“.

A: Hier ist eine Beobachtung ausgedrückt worden, die nicht mit einer Bewertung vermischt ist.

R: Der dritte Satz: „Mein Chef hat mich während der Sitzung nicht nach meiner Meinung gefragt.“

A: Hier wurde eine Beobachtung ausgedrückt, die nicht mit einer Bewertung vermischt ist.

R: Der vierte Satz: „Mein Vater ist ein guter Mensch“.

A: Ich halte „guter Mensch“ für eine Bewertung. Eine Beobachtung ohne Bewertung könnte sein: „In den letzten 25 Jahren hat mein Vater ein Zwanzigstel seines Einkommens für gute Zwecke ausgegeben“.

R: Der fünfte Satz: „Jennifer arbeitet zu viel“.

A: Ich halte „zu viel“ für eine Bewertung. Eine Beobachtung ohne Bewertung könnte sein: „Jennifer hat diese Woche mehr als 60 Stunden im Büro verbracht.“

R: Der sechste Satz: „Hans ist aggressiv.“

A: Ich halte „aggressiv“ für eine Bewertung. Eine Beobachtung ohne Bewertung könnte sein: „Hans hat seine Schwester geschlagen, als sie ein anderes Fernsehprogramm eingestellt hat.“

R: Der siebte Satz: „Christine war in dieser Woche jeden Tag die erste in der Warteschlange.“

A: Hier ist eine Beobachtung ausgedrückt worden, die nicht mit einer Bewertung vermischt ist.

R: Der achte Satz: „Meine Tochter putzt sich oft nicht die Zähne.“

A: Ich halte „oft“ für eine Bewertung. Eine Beobachtung ohne Bewertung könnte sein: „Meine Tochter hat zweimal diese Woche ihre Zähne nicht geputzt, bevor sie ins Bett gegangen ist.“

R: Der neunte Satz: „Barbara hat mir gesagt, gelb steht mir nicht besonders.“

A: Hier wurde eine Beobachtung ausgedrückt, die nicht mit einer Bewertung vermischt ist.

R: Der zehnte Satz: „Meine Tante klagt immer, wenn ich mit ihr spreche.“

A: Ich halte „klagt immer“ für eine Bewertung. Eine Beobachtung ohne Bewertung könnte sein: «Meine Tante hat mich diese Woche dreimal angerufen und jedes Mal über Leute gesprochen, die nicht so mit ihr umgegangen sind, wie sie das gerne gehabt hätte».

R: In der ersten Komponente der GFK geht es um die Beobachtung: Was sehen wir, was hören wir, an was erinnern wir uns, was stellen wir uns vor, ohne es zu bewerten, zu beschuldigen und zu kritisieren. All diese tragen zu unseren Wohlbefinden bei.

A: Ich bin müde, legen wir eine Pause ein!

R: Ja, wir machen eine Pause.

 

 

 

 

 

Quellen

Rosenberg, Marshall B. Gewaltfreie Kommunikation. Paderborn: Junfermann, 2016.

Rosenberg, Marshall B. Erziehung, die das Leben bereichert. Paderborn: Junfermann, 2007.

Rosenberg, Marshall B. Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation. Freiburg im Breisgau: Herder, 2012.