Der Instinkt

R: Guten Morgen, du bist schon wach!

A: Morgen, ich mache mir einen Tee, möchtest du auch einen?

R: Gerne, einen Schwarzen. Weisst du, was der Instinkt ist?

A: Ich habe keine klare Vorstellung davon. Im Alltagsgebrauch verstehe ich den Begriff Instinkt: Wenn gesagt wird „er hat instinktiv gehandelt“, dann ist damit so etwas wie eine unbewusste Ahnung gemeint, die automatisch zu einem richtigen Verhalten führt. Der Tee ist bereit, ich stelle ihn auf den Tisch.

R: Hast du schon mal von Sigmund Freud gehört?

A: Ja, ich habe von ihm gehört.

R: Der Kern von Freuds ursprünglicher Theorie der Psychoanalyse ist seine Definition des Instinktsystems, das zwei Hauptarten von Instinkten enthält. Zunächst gibt es die lebenserhaltenden Instinkte wie z.B. das Bedürfnis nach Luft, Nahrung, Wasser und Schutz sowie die Angst vor Schlangen, Höhen und gefährlichen Menschen. Diese Instinkte sind aufs Überleben ausgerichtet. Und die zweite Art von Instinkten, die menschliches Handeln motivieren, sind Freud zufolge die sexuellen Instinkte.

A: Interessant, die lebenserhaltenden Instinkte, die Freud bestimmt, gleichen unseren physiologischen Bedürfnissen. Ohne Atmen, Essen, Trinken, Schlafen, Sexualität,… können und werden wir nicht existieren. Sind die Instinkte angeboren?

R: Gewiss, einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass die menschlichen Instinkte angeboren sind. Zum Beispiel William James formuliert, dass die Existenz des Instinktes mit der Geburt beginnt; der erste Schrei nach der Geburt, Niesen, Schnarchen, Husten, Weinen, Bewegung von Gliedmassen nach Berührung, Aufrecht sitzen, Stehen und Laufen. Im Alter von zwei Jahren zeigt jedes Kind bereits eine wahre Flut von Instinkten. Wird das Kind älter, entwickeln sich Instinkte wie Imitation, Vokalisation, Nacheifern, Streitsucht, die Angst vor bestimmten Objekten. Später zeigen Erwachsene Instinkte wie Jagdlust, Bescheidenheit, Liebe, Elternschaft. Jeder dieser Instinkte fasst eine Reihe von spezifischen Besonderheiten unseres angeborenen psychologischen Wesens zusammen. Unsere angeborenen Instinkte üben einen weit grösseren Einfluss auf unsere Gefühle aus. William James definiert die Instinkte als die „Fähigkeit, durch sein Handeln bestimmte Ziele zu erreichen, ohne diese Ziele vorher zu kennen und ohne im Handeln vorher ausgebildet worden zu sein“.

A: Trinkst du noch einen Tee?

R: Einen Schwarztee mit zwei Zuckerwürfeln.

A: Erzähle weiter!

R: Es scheint, dass der Instinkt drei Funktionen hat. Der Instinkt kann die Wahrnehmung bestimmen, nämlich wie wir uns Dinge mittels der Sinne aneignen, zum Beispiel: Ich habe Durst und trinke Wasser. Der Instinkt kann auch die Emotion und zwar wie wir Dinge erleben, bestimmen. Das Wasser ist heiss, kalt usw. Und der Instinkt kann die Motivation bestimmen, also wie wir mit Dingen umgehen. Die Instinkte sind variabel und wandelbar.

A: Das, was du erzählt hast, bedeutet, dass man auf diese Weise unermessliche Gefühle, die vielfältig sind, erlebt.

R: Neurobiologen sprechen von zwei Impulsen, von einem Belohnungssystem und von einem Vermeidungssystem. Alle angenehmen und unangenehmen Gefühle, zu denen wir Menschen fähig sind, stellen entweder Belohnungs- oder Vermeidungsgefühle dar. Das ist der Sinn unserer guten und schlechten Gefühle. Unsere Instinkte bedienen sich dieser Gefühlsimpulse, um ihre Funktion ausüben zu können.

A: Wie viele Instinkte haben wir?

R: Wie gesagt, die Instinkte haben einen weit grösseren Einfluss auf unsere Gefühle, als wir gemeinhin glauben. Sie machen nämlich die Gefühle. Der Mensch verfügt wie die meisten Säugetiere über drei Grundinstinkte. Die Grundinstinkte können unabhängig voneinander agieren. Man kann zum Beispiel Angst um sein Leben haben und gleichzeitig Liebe empfinden.

A: Was sind diese Grundinstinkte?

R: Unsere Grundinstinkte sind dazu geschaffen worden, unser eigenes Leben und unsere Art zu erhalten. Es handelt sich um den Überlebens-, Herden- und Vergnügungstrieb.

A: Der Tee ist fertig, ich hole ihn und höre zu!

R: Danke für den Tee. Im Grunde sind alle Instinkte Überlebenstriebe. Zum einen sorgt der Überlebenstrieb dafür, dass wir Vermeidungsgefühle wie Hunger, Durst und körperliche Schmerzen verspüren, die uns signalisieren, dass unser Körper in Gefahr ist, und uns zu entsprechenden Gegenmassnahmen (Nahrungssuche, Schutzsuche, Wundpflege usw.) motiviert.

Zum anderen hat der Überlebenstrieb auch einen vorbeugenden Aspekt. Er kann Gefahren identifizieren, bevor sie den Körper tatsächlich schädigen und aktiviert daraufhin mittels Adrenalin das Flucht- und Kampfprogramm. Er bringt zu diesem Zweck einige angeborene Urängste mit, etwa die Angst vor grösserer Höhe, Feuer, Dunkelheit, lauten Geräuschen, Kriechtieren und unbekannte Dinge, die in der freien Natur sehr oft Gefahr bedeuten.

A: Und was beinhaltet der Herdentrieb?

R: Dies ist bei Menschen der zweitwichtigste Trieb, der zur Zeit seiner Entstehung ebenfalls äusserst überlebensrelevant war. In der freien Natur voller Raubtiere konnten die Menschen nur in Gruppen überleben, wer sein Herd oder Rudel verlor oder ausgeschlossen wurde, war so gut wie tot. Dieser Instinkt motiviert uns dazu, die Gemeinschaft von Artgenossen zu suchen, die uns wohl gesonnen sind. Er lässt uns nach Menschen zu suchen, die zu uns passen und bei denen wir erwünscht sind. Die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten bei anderen Menschen löst daher automatisch Belohnungsgefühle aus und erzeugt Sympathie und Geborgenheit.

A: Und was hat es mit dem Vergnügungstrieb auf sich?

R: Dieser Treib fasst alle Motivationen zusammen, bei denen wir Dinge anstreben, die unmittelbare körperbezogene Belohnungsgefühle, sprich Genuss erzeugen. Diese Gefühle sind so angelegt, dass sie uns Dinge geniessen lassen, die für das Überleben wichtig oder nützlich sind. So empfinden wir zum Beispiel gesunde Nahrung als schmackhaft. Je nach Witterung suchen wir nach Wärme oder Abkühlung, weil es sich gut anfühlt – eine wichtige Schutzfunktion für den Körper. Umgekehrt empfinden wir als Vermeidungsgefühle Ekel oder Unwohlsein bei Dingen, die uns schaden, etwa bei giftigen Speisen, starker Hitze und Kälte usw. Genuss kann durch körperliche Nähe und Zärtlichkeit ausgelöst werden. Der Sexualtrieb wird als Genuss aufgefasst, da dieser Trieb starke Zusammengehörigkeitsgefühle erzeugen und ausdrücken kann.

A: Und nun, wie definieren wir den Instinkt?

R: Der Instinkt ist eine innere treibende, bewegende Kraft. Der Instinkt ist verpflichtet, sich auf die lebensnotwendigen und lebenswichtigen Bedürfnisse zu konzentrieren und deren Erfüllung zu erzielen. Der Instinkt ist ein biologisches Programm. Wie einst ein Philosoph bemerkte, ist letztlich ein Instinkt nur eine organische-biologische Übersetzung eines Bedürfnisses, welches seine Befriedigung sucht.

 

 

 

Quellen:

Buss, David.M. Evolutionäre Psychologie. München: Pearson, 2004.

Junker, Thomas/Paul, Sabine. Der Darwin-Code. München: C. H. Beck, 2009.

Kensington, Ella. Die Glückstrainer. Berlin: Neunpuls1, 2008.

Starkmuth, Jörg. Die Entstehung der Realität. München: Random House, 2010.