Maschengefühl

A: Hallo, ich bin wieder zurück. Wo bist du?

R: Ich bin in der Küche. Du siehst blass aus, was ist in dich gefahren?

A: Ich wollte einkaufen, aber ich konnte es nicht.

R: Warum?

A: Weil ich die eingekauften Waren nicht bezahlen konnte. Ich habe kein Geld gehabt.

R: Setz dich, ich habe schon eingekauft. Möchtest du einen Tee?

A: Ja, gerne. Ich stand erst am Nachmittag auf, sah auf die Uhr und stellte mit Erleichterung fest, dass ich noch gerade genügend Zeit hatte, um schnell zum Lebensmitteladen zu gehen, um einzukaufen, ehe es zu spät war. Ich stellte eine Liste zusammen für die Sachen, die ich kaufen wollte und machte mich auf den Weg. Im Laden angekommen, sah ich, dass sich auch eine Menge Leute im Laden befanden, die ebenfalls einkaufen wollten.

R: Dein Tee ist schon bereit, ich stelle ihn auf den Tisch. Ich setze mich und höre dir zu.

A: Ich ging an den Regalen vorbei und nahm, was ich brauchte. Danach ging ich zur Kasse. Die Kassiererin tippte die Beträge ein und nannte mir die Summe. Ich griff zu meiner Jackentasche und merkte, dass ich mein Portemonnaie nicht dabeihatte. Einen Augenblick lang geriet ich in Verlegenheit. Ich suchte von neuem alles durch, aber umsonst. Ich ärgerte mich über mich selbst. Ich sagte der Kassiererin, was passiert war und fragte sie: «Kann ich Ihnen nicht einfach Name und Adresse hinterlassen, meine Waren mitnehmen und dann wiederkommen?» Die Kassiererin sagte: »Nein, es tut mir leid, das geht nicht». Ich sah mich um und bemerkte, dass einige Kunden darauf warteten, ihre Waren an der Kasse zu bezahlen können. Ich habe mich geschämt und fühlte mich ratlos. Schliesslich verliess ich den Laden und nun sitze ich in der Küche und rede mit dir darüber.

R: Eigentlich hast du nichts gemacht, was du nicht machen darfst. Du hast nur vergessen, dein Portemonnaie mitzunehmen. Die Gefühle, die du beim Einkaufen hattest, sind nur deine Empfindungen, die du in einer grossen Anzahl unterschiedlicher Stresssituationen verspürst.

A: Trotzdem sind diese Gefühle unangenehm und schlecht.

R: Jeder von uns hat ein Lieblingsgefühl unter den schlechten Gefühlen, das er bevorzugt und das ihm sozusagen als «Allzweck-Emotion» dient, wenn er merkt, dass etwas schiefläuft.

A: Ich mache mir nochmals einen Tee, möchtest du auch einen?

R: Ja, ich nehme gerne auch einen Tee. Die Gefühle, die du beim Einkaufen festgestellt und empfunden hast, haben nicht bewirkt, dass du dein Problem lösen konntest.

A: Was meinst du damit?

R: Wenn du wütend geworden wärst, die Kassiererin angeschrien hättest, hätte dir das nicht dazu verholfen, die Waren zu bekommen, die du einkaufen wolltest. Auch wenn du nun ratlos, dich über dich selbst geärgert hättest, von furchtbarer Panik ergriffen worden wärst oder eine der anderen Emotionen gehabt hättest – keine dieser Empfindungen hätten dir nur im Geringsten geholfen, die eingekauften Sachen aus dem Lebensmittelladen herauszubekommen.

A: Der Tee ist bereit. Ich stelle ihn auf den Tisch und höre dir zu!

R: Danke für den Tee. Die genannten emotionalen Eigenarten, die du beim Einkaufen erlebt hast, sind charakteristisch für jene Art von Emotionen, die als Maschengefühle definiert werden.

A: Was sind denn diese Maschengefühle? Ich habe noch nie davon gehört.

R: Bevor ich über das Wesen und die Funktion von Maschengefühlen spreche, werde ich dich über eine Benennung informieren, nämlich das Lebens-Skript. Das Lebens-Skript ist ein unbewusster Lebensplan, der in der Kindheit aufgestellt und von den Eltern verstärkt wird, später durch weitere Ereignisse eine «Rechtfertigung» findet und in einer unbewusst gewählten Alternative gipfelt.

A: Erzähle weiter, ich bin ganz Ohr!

R: Ein Maschengefühl wird als vertraute Emotion definiert, sprich als Emotion, die in der Kindheit und zwar in der Vergangenheit erlernt sowie gefördert wurde, die in vielen unterschiedlichen Stresssituationen erlebt wird, und deren Ausdruck als Mittel zur Problemlösung für den Erwachsenen eine Fehlanpassung bedeutet. Eine Masche wird als eine Gesamtheit lebensskriptgebundener Verhaltensweisen definiert. Und zwar sind das diejenigen Verhaltensweisen, die unbewusst eigesetzt werden. Sie dienen als Mittel zur Manipulation der Umgebung und bringen es mit sich, dass der Betreffende ein Maschengefühl erlebt.

A: Also beim Einkaufen, wo ich ohne irgendeinen Franken vor der Kasse stand, hatte ich «es so angestellt», dass ich jenes ungute Gefühl erleben konnte, das ich am Ende hatte. Ich hätte ja dafür sorgen können, dass ich Geld bei mir gehabt hätte, was ich aber nicht getan habe. Wenn du mich nach dem Grund fragen würdest, würde ich wohl antworten: «Ich habe einfach nicht daran gedacht».

R: Genau. Das Ergebnis der Ereignisse, die der Betreffende – nämlich du –herbeigeführt hat, erscheint als «Rechtfertigung» für das Maschengefühl. Stellen wir uns doch noch einmal den Augenblick vor, als du an der Kasse gestanden und Wut auf die Kassiererin verspürt hast. Wenn ich dich dann gefragt hätte: «Wieso bist du denn auf die Kassiererin wütend?», hätte deine Antwort lauten können: «Ich kann hier meine Waren und Einkäufe nicht mitnehmen». Wut auf andere ist mein Lieblings-Maschengefühl in Stresssituationen. Vier andere Menschen haben unter Umständen vier verschiedene ungute Gefühle in der gleichen Situation. Und sie werden mit grosser Wahrscheinlichkeit alle davon ausgehen, dass ihr Lieblings-Maschengefühl, genau wie meines, in einer solchen Situation doch «etwas ganz Selbstverständliches» ist.

A: Müssen wir immer «eine Masche stricken», um ein Maschengefühl zu empfinden?

R: Nicht unbedingt. Wir können ein Maschengefühl auch als Reaktion auf eine Stresssituation erleben, die wir nicht herbeigeführt haben, die also ohne unser Zutun eintritt. Stelle dir z.B. vor, dass du mit einem öffentlichen Verkehrsmittel fährst – Strassenbahn oder Bus – und einen Termin einhalten musst. Und dann kommt es zu irgendeinem technischen Defekt und es zeichnet sich eine Verspätung ab. Wenn du dann dasitzt und dir die Minuten ausrechnest, was empfindest du dann? Du würdest dich wahrscheinlich über das städtische Verkehrsunternehmen ärgern. Ein Anderer bekäme schreckliche Angst, ein Dritter würde sich ratlos fühlen, und so weiter.

A: Also kann ich es so formulieren: Jedes Mal, wenn ich ein Maschengefühl erlebe, bin ich im Lebens-Skript. Wie entstehen die Maschengefühle in der Kindheit?

R: Jede Familie hat ihre eigene beschränkte Zahl von zugelassenen Gefühlen und dann einen grösseren Bereich von Gefühlen, die unerwünscht oder verboten sind. Die erlaubten Gefühle sind manchmal bei Jungen anders als bei Mädchen. Den kleinen Jungen bringt man oft bei, dass es in Ordnung ist, wenn sie wütend und aggressiv werden, aber dass sie keine Angst haben oder nicht weinen dürfen. Die kleinen Mädchen lernen ihrerseits, wie sie auf Stress reagieren sollen: sie dürfen jammern oder weinen, haben süss und gewinnend zu sein oder apart und spritzig, selbst wenn sie vor Wut bald platzen könnten.

A: Würdest du bitte ein Beispiel machen?

R: Stell dir einen Augenblick lang vor, dass der kleine Junge Angst bekommt und sie auch zeigt. Vielleicht ist auf dem Weg von der Schule so ein Quartierbekannter Rowdy gerade hinter ihm her. Er kommt zur Mutter gerannt, zitternd vor Angst und schutzsuchend. Die Mutter sieht ihn Kopfschüttelnd an und sagt: «Na, na, du bist vielleicht ein Angsthase! Wenn sie dir was wollen, dann gehe hin und wehre dich!» Dann wendet sie sich wieder ihrer Hausarbeit zu. Und der Junge prägt sich ein: «Wenn ich Angst kriege und das zeige, erreiche ich hier nicht, was ich will. Ich habe Schutz gesucht, und stattdessen werde ich fortgeschickt – einfach ignoriert.

A: Ich koche mir nochmals einen Tee, möchtest du auch?

R: Ja, gerne. Der Junge sinniert nun, ob es doch Wege gibt, wie er das erreichen kann, was er will. Wahrscheinlich probiert er eine ganze Reihe von Gefühlen aus, Tag für Tag, als Reaktion auf Stresssituationen. Er versuchte es mit Traurigkeit, mit Übermut, mit Aggressivität, mit Verwirrung, mit totaler Ratlosigkeit und einer endlosen Reihe weiterer Gefühle. Und nun stell dir vor, er entdeckt, dass die Mutter am besten reagiert, wenn er aggressiv wird. Wenn jetzt dieser Rowdy hinter ihm her ist, geht er auf ihn los und verwickelt sich in eine Schlägerei mit dem Rowdy und wird von ihm zusammengeschlagen. Obwohl er jetzt zerschunden ankommt und ihm alle Knochen wehtun, kriegt er zumindest von der Mutter ein Lob: «Gut gemacht! Grosse Jungen weinen nicht!» Er hat ein Gefühl entdeckt, das ihm «das bringt», worum es ihm am meisten geht: Anerkennung von seinen Eltern.

A: Der Tee ist schon bereit, ich stelle deinen auf den Tisch.

R: Der Tee riecht gut!

A: Kann ich davon ausgehen, dass ein Maschengefühl ein echtes Gefühl überdeckt?

R: Ich glaube schon. Stellen wir uns vor, dass ein kleines Mädchen lernt: «In meiner Familie darf ein Mädchen durchaus traurig sein, aber niemals wütend». Und nun nehmen wir an, als Erwachsene im Lebens-Skript kommt sie in eine Situation, wo sie gerade auf jemand wütend werden will. Stellen wir uns z.B. vor, sie wird in einem überfüllten Bus von einem Mitfahrenden brutal zur Seite gedrängt. Im gleichen Augenblick, wo sie anfängt, Wut zu empfinden, schlüpft sie, fast wie bei einem konditionierten Reflex, in ihr angelerntes Kindheitsmuster. Statt wütend zu werden, fühlt sie sich traurig und bricht vielleicht in Tränen aus. Sie hat ihre echte Wut durch eine unechte Maschentraurigkeit überlagert oder überdeckt.

A: Ich bin müde und möchte mich hinlegen.

R: Alles klar, erhol dich doch!

 

 

 

Quelle

Stewart, Ian & Joines, Vann. Die Transaktionsanalyse. Freiburg im Breisgau: Herde, 2000