Drei Instanzen in dir

R: Endlich bist du da, möchtest du einen Tee?

A: Ja, gerne.

R: Setz dich, erzähle, wie ist es gelaufen?

A: Unterwegs, vor allem auf der Autobahn, herrschte starker Verkehr. Ich beobachtete ständig die Position und die Geschwindigkeit der anderen Fahrzeuge und achtete auf die Verkehrszeichen. Plötzlich kam ein anderer Wagen, überholte mich und zog knapp vor mir scharf nach rechts. Ich erschreckte und hatte für einen kurzen Augenblick lang Angst, es könnte zu einem Zusammenstoss kommen. Ich sah kurz in den Rückspiegel, überzeugte mich, dass die Strasse hinter mir frei war und bremste so vorsichtig, dass ein Zusammenstoss vermieden wurde.

R: Dein Tee ist fertig, mit zwei Zuckerwürfeln?

A: Ja, gerne, danach war ich so wütend und schrie im Auto: „Verflucht, so jemand darf nicht mehr Auto fahren, sein Führerschein muss entzogen werden“. Darauf bog ich ein und fuhr auf den Arbeitsplatz zu. Ich schaute auf die Uhr und sah, dass ich durch den Verkehr so aufgehalten worden war, dass es für den wichtigen Termin mit meinem Chef zu spät war. Ich steckte meine Hand in die Jackentasche und merkte, dass ich mein Mobiltelefon nicht dabei hatte. Ich fühlte, wie sich mein Herz verkrampfte, und einen Augenblick lang geriet ich in Panik. Doch nach einer kurzen Weile dachte ich mir: „Moment mal! Wovor habe ich eigentlich Angst? Mein Chef ist ein vernünftiger Mann. Wenn er hört, wieso ich zu spät komme, wird er schon Verständnis haben“. Kann ich noch einen Tee haben?

R: Ja sicher, wieder mit zwei Zucker?

A: Und auch ein wenig Milch, danke.

R: Nun, du hast heute die drei Instanzen, die in dir beheimatet sind, kennengelernt. Zu einer gesunden und ausgeglichenen Persönlichkeit gehören alle drei Ich-Zustände.

A: Was sind diese drei Instanzen?

R: Du hast von deinen Erlebnissen erzählt. In deiner Beschreibung gibt es Augenblicke, in denen du genauso gedacht und gefühlt hast, wie du dies schon als Kind getan hast. Dann gibt es wieder Augenblicke, wo du dich so verhalten, auch so gedacht und gefühlt hast, wie du es vor langer Zeit von deinen Eltern oder von anderen Menschen übernommen hast. Und schliesslich gibt es Augenblicke, wo dein Verhalten, dein Denken und Fühlen nichts anderes als eine Reaktion im Hier und Jetzt auf das ist, was gerade um dich herum passiert war.

A: Ich kann dir nicht folgen.

R: Der Begründer der Transaktionsanalyse, Erich Berne, geht davon aus, dass in jedem Menschen drei Ich-Zustände, nämlich das Eltern-Ich, das Kindheits-Ich und das Erwachsenen-Ich vorhanden ist. Jeder Ich-Zustand wird durch eine Kombination von Fühlen und Erleben, die in sich geschlossen ist, wo also Fühlen und Erleben zusammen ablaufen, definiert. Als du erzählt hast, was geschehen ist, hast du im Grunde drei unterschiedliche Weisen des In-der-Welt-Seins dargestellt. Und jede dieser Weisen bildet eine Gesamtheit von Verhalten, Denken und Fühlen.

A: Oh… erzähle weiter!

R: Also, der Eltern-Ich-Zustand beinhaltet: Verhalten, Denken und Fühlen, das von den Eltern oder Elternfiguren übernommen worden ist. Der Erwachsenen-Ich-Zustand enthält: Verhalten, Denken und Fühlen, das eine direkte Reaktion auf das Hier und Jetzt ist. Und der Kind-Ich-Zustand bedeutet: Verhalten, Denken und Fühlen, das aus der Kindheit stammt und jetzt wieder abgerufen wird. Berne führt an, dass wenn ich mit dem Fühlen und Erleben in Kontakt bin, was einen bestimmten Ich-Zustand definiert, auch die Verhaltensweise zeige, die für diesen Ich-Zustand charakteristisch ist.

A: Wie wird der Ich-Zustand ausgelöst?

R: Durch Verhalten, Denken und Fühlen. Wenn ich in meinem Erwachsenen-Ich bin, reagiere ich auf das Hier und Jetzt mit allen Kräften und Fähigkeiten, die mir als erwachsenen Menschen zur Verfügung stehen. Dazu gehört im Allgemeinen ein gewisses Problemlösungs-Verhalten. Ich erlebe mich mithin als „denkendes Wesen“. Wenn jemand mein Verhalten beobachtet, würde er es wahrscheinlich als „denken“ deuten.

Wenn ich ins Kind-Ich gehe, fange ich an, Verhalten, Gefühle und Gedanken aus meiner eigenen Kindheit zu reproduzieren. Kinder, besonders die ganz kleinen, gehen vorwiegend gefühlmässig auf die Welt ein. Bin ich also im Kind-Ich, erlebe ich mich meist als „fühlendes Wesen“. Wenn mich dann jemand beobachtet, würde er wahrscheinlich bestätigen, dass ich augenscheinlich „Gefühle ausdrücke“.

Bin ich im Eltern-Ich, entlehne ich mein Verhalten, Denken und Fühlen entweder von Vater oder Mutter oder von einer anderen Bezugsperson, und zwar so, wie ich diese Person als Kind erlebt habe. Aus der Sicht des Kindes sind die Grossen doch meistens damit befasst, Weisungen aufzustellen über das, was geschehen soll oder was nicht passieren darf. Sie fällen Urteile darüber, wie die Dinge laufen und wie die Welt überhaupt funktioniert. Wenn ich im Eltern-Ich bin, werde ich mithin grösstenteils das tun, was meine Eltern getan haben: Werturteile darüber abgeben, wie eigentlich alles sein sollte und was die Menschen zu tun und lassen haben.

A: Also, wenn ich denke, bin ich im Erwachsenen-Ich. Wenn ich fühle, bin ich im Kind-Ich. Und wenn ich den Wert oder Unwert von Menschen oder Erscheinungen beurteile, bin ich im Eltern-Ich.

R: Genau so! Wenn ich im Erwachsenen-Ich bin, werde ich oft nachdenken. Wenn ich im Kind-Ich bin, werde ich oft Gefühle erleben. Und wenn ich im Eltern-Ich bin, fälle ich sicher oft Werturteile.

A: Ich habe Durst und würde noch gerne einen Tee trinken, möchtest du auch einen?

R: Sehr gerne!

A: Erzähle weiter!

R: Der Ich-Zustand ist keine „Sache“, nicht irgendein Ding, sondern ein Name, eine Benennung, mit der eine Gesamtheit von Erscheinungen bezeichnet wird – nämlich von zusammengehörigen Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen. Wenn wir unsere Probleme im Hier und Jetzt lösen wollen, brauchen wir unser Erwachsenen-Ich, um unser Leben zweckmässig und sinnvoll zu meistern. Wenn wir im Zusammenleben mit den Menschen nicht anecken wollen, brauchen wir auch die Verhaltensweisen, die wir in unserem Eltern-Ich gespeichert haben. In unserem Kind-Ich haben wir immer wieder Zugang zu der Spontaneität, zu der Kreativität und zu jenem unmittelbaren Begreifen einer Situation, das uns in unserer Kindheit so leicht gefallen war.

A: Sind das Eltern-Ich und das Kind-Ich nicht Einblendungen aus der Vergangenheit?

R: Doch, sie gehören zur Vergangenheit. Bin ich im Kind-Ich, dann durchlebe ich Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühle aus meiner eigenen Vergangenheit, sprich aus meiner Kindheit. Wenn ich im Eltern-Ich bin, gebe ich mich Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühlen hin, die ich in der Vergangenheit von Eltern und Elternfiguren übernommen habe. Allein wenn ich im Erwachsenen-Ich bin, reagiere ich auf Situationen mit all den Möglichkeiten, über die ich in der Gegenwart als erwachsener Mensch verfüge.

A: Wie stellst du meine Ich-Zustände dar?

R: Als du auf der Autobahn unterwegs warst, hattest du also deinen eigenen Wagen in ständiger Reaktion auf das, was hier und jetzt um dich herum geschieht, gesteuert. Da warst du in deinem Erwachsenen-Ich-Zustand. Und als ein anderer Wagen dich überholte, änderte sich dein Ich-Zustand nicht. Dein Erschrecken und deine Angst waren eine durchaus angemessene Reaktion auf die Gefahr im Hier und Jetzt und hatten deinen Körper dabei unterstützt, rascher zu reagieren, um einen Zusammenstoss zu vermeiden.

Als du auf deine Armbanduhr geschaut hast, du gemerkt hast, dass du zu spät warst, bist du in Angst und Panik geraten. Damit bist du in deinen Kind-Ich-Zustand getreten. Vermutlich bist du in Kontakt mit alten Erinnerungen gekommen, wie du etwa zu spät zur Schule gekommen bist und Angst vor der Strafe des Lehrers hattest. Das Gefühl der Panik ist eine Reaktion auf solche alte Erinnerungen.

Und als du im Wagen geschrien hast, warst du in deinem Eltern-Ich-Zustand. Möglicherweise hattest du, als du noch klein warst, im Auto oft neben deinem Vater gesessen und miterlebt, wie er sich über andere Fahrer ärgerte.

A: Danke für den Tee, ich bin müde und will mich hinlegen, bis später.

R: Bis dann.

 

 

 

Quellen

Poletti, Rosette & Dobbs Barbara. Resilienz. München: Scorpio, 2014.

Stewar, Ian & Joines, Vann. Die Transaktionsanalyse. Freiburg im Breisgau: Herder, 2000.