III.  Samstagabend

R: Wie fühlst du dich?

A: Eigentlich nicht schlecht.

R: Ich habe uns Wein bestellt.

A: Ich sehe es, danke dir, du hast schon meine Gedanken gelesen. Ist es ein Primitivo?

R: Ja klar, ich mag ihn und du magst ihn auch, also Prost!

A: Prost! Der Wein schmeckt angenehm.

R: Ich bin froh, dass dir der Wein gefällt.

A: Wir sind sicher, dass es eine fixierte Vergangenheit, eine unmittelbare Gegenwart und eine offene Zukunft gibt.

R: Der Eindruck einer verstreichenden Zeit kommt dadurch zustande, dass uns das Bewusstsein mithilfe der Wahrnehmung, der Gefühle und des Verstandes einzelne Ereignisse präsentiert.

A: Das heisst: Ohne Bewusstsein gibt es keine Ereignisse, aber ohne Ereignisse schaltet das Bewusstsein ab!

R: Gewiss, das Interpretieren, Katalogisieren und Zerteilen der Welt und das Erzeugen einer Zeitstruktur ist allein die Sache des Bewusstseins, nämlich des Verstandes. Ordnung und Logik sind an zeitliche Abläufe und zwar Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gebunden.

A: Die Zeit lässt sich durch das Intervall zwischen Ereignissen definieren. Es gibt keinen externen Massstab der Zeit.

R: Zeit ist demnach nichts anderes als die Abfolge von Ereignissen und zwar die Wahrnehmung eines Vorher und Nachher. Der Zeitfluss ist die Bewegung zwischen „davor“ und „danach“. Zeitfluss als Masszahl muss von einem Bewusstsein erkannt und bewertet werden, sonst wäre es keine Masszahl.

A: Vergangenheit und Zukunft sind nur pure Gedankenprodukte. Wenn der Verstand still ist, sind wir nur noch in der Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft entstehen nur in unseren Gedanken.

R: Die Zeit lebt von Unterschieden, Veränderungen, Gegensätzen und deren Abfolge. Wenn es keine Unterschiede, keine Kontraste mehr gibt, kann es keine Abfolge, also auch keine Zeit mehr geben. Ohne Zeit steht die wahrnehmbare Welt still.

A: Bewusstsein im Sinne individuell erfahrener Erlebniszustände ist unabdingbar an Hirnaktivität gebunden. Bewusstsein umfasst alle Zustände, die von einem Individuum erlebt werden. Ich kann nicht wissen, was kalt ist, wenn ich nicht die Erfahrung von warm und heiss gemacht habe. Ich weiss nicht, was Freude ist, wenn ich nicht auch Traurigkeit und Melancholie erfahren habe. Bewusstsein tut nichts anderes, als Kontraste zu erfassen – Wärme und Kälte, Stille und Lärm. Gegensätze ermöglichen die Wahrnehmung einer Veränderung eines Vorher und Nachher. Hierzu gehören das Bewusstsein des eigenen Körpers, das Bewusstsein von dessen Identität und das Gefühl der Autorschaft der eigenen Handlungen. Susan Blackmore definiert das Bewusstsein neuartig, sie bemerkte: „Wie fühlt es sich an, X zu sein?“. Wenn es sich irgendwie anfühlt, X zu sein, dann ist X bewusst, sonst nicht. Bewusstsein bedeutet subjektives Erleben sowie phänomenale Erfahrung. Wie kommt das subjektive Erleben zustande und wie verwandelt sich subjektives Erlebnis zur Eigenschaft des Selbstbewusstseins? Forscher gehen davon aus, dass das Gehirn funktional um einen allgemein zugänglichen Arbeitsraum herum organisiert ist, in dem zu jedem Zeitpunkt nur eine begrenzte Zahl von Dingen verarbeitet wird. Die wenigen bewussten Dinge sind diejenigen, die sich auf der Bühne im Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit befinden, der Rest bleibt am weniger gut ausgeleuchteten und weniger bewussten Rand verborgen. Im dunklen Parkett sitzen die unbewussten Zuschauer, und hinter den Kulissen werkeln die Bühnenarbeiter mit ihren eigenen Kontextsystemen und beeinflussen das Geschehen auf die Bühne. Die Dinge, die bewusst sind, sind also diejenigen, die sich im Arbeitsraum befinden und allgemein zugänglich sind. Wann immer ich frage “Bin ich jetzt bewusst?“, lautet die Antwort “Ja“. Aber was ist mit dem Rest der Zeit? Wie fühlt es sich an, wenn ich nicht frage “Bin ich jetzt bewusst?“. Das herausfinden zu wollen, ist so, also würden wir den Kühlschrank aufreissen, um zu sehen, ob drin immer das Licht brennt. Steven Pinker meinte, dass das Bewusstsein so etwas wie ein Sturm sei, der in unserem Gehirn wütet. Das intuitive Gefühl, dass ein steuerndes ICH in einem Kommandoraum unseres Gehirns sitzt und die Bildschirme unserer Sinneseindrücke überwacht und die Knöpfe unserer Muskeln drückt, ist eine Illusion. Das Bewusstsein besteht vielmehr aus einem Strudel von Ereignissen, die über das Gehirn verteilt sind. Diese Ereignisse konkurrieren um Aufmerksamkeit. Und wenn ein Prozess die anderen übertrumpft, dann wird dem Gehirn nur das Ergebnis klar – als Folge davon heckt es aus, dass die ganze Zeit nur ein einziges Selbst die Kontrolle hatte.

R: Willst du noch ein Glas Wein und etwas Wasser dazu?

A: Sehr gerne!

R: Ich schenke dir ein.

A: Danke dir.

R: Wenn ich die Zeit annehme, bedeutet das, dass die Wirklichkeit nur aus dem besteht, was zu jedem Zeitpunkt wirklich ist. Wenn man die Zeit annimmt, bedeutet es auch, dass unsere Grundannahmen darüber, wie unsere Welt auf der fundamentalsten Ebene funktioniert, unvollständig sind. Die Zeit ist wirklich. Alles, was in unserer Welt wirklich ist, ist zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich, welcher zu einer Abfolge von Zeitpunkten gehört. Die Vergangenheit war wirklich, ist aber nicht mehr. Wir können die Vergangenheit jedoch interpretieren und analysieren, weil wir in der Gegenwart Belege von vergangenen Prozessen finden. Und die Zukunft existiert noch nicht und ist deshalb offen. Manche Vorhersagen können wir zwar vernünftigerweise treffen, aber wir können die Zukunft nicht vollständig vorhersagen. Nichts geht über die Zeit hinaus, nicht einmal Naturgesetze. Wie alles andere sind auch die Naturgesetze Eigenschaften der Gegenwart und sie entwickeln sich über die Zeit hinweg. Die darwinsche Evolutionsbiologie ist der Prototyp des Denkens in der Zeit, da in ihrem Zentrum die Erkenntnis steht, dass natürliche Prozesse, die sich in der Zeit entwickeln, zur Schaffung wahrhaftig neuer Strukturen führen können. Es können sogar neue Gesetze auftauchen. Die Wahrheit, die wir wahrnehmen, ist sowohl zeitgebunden als auch objektiv. Unsere Wahrheit bezieht sich auf Gegenstände, die existieren, nachdem sie einmal vom menschlichen Denken erfunden wurden. Die Wahrheit legt nachdrücklich nahe, dass die gesamte Geschichte der Welt eine zeitlose Einheit bildet: Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft haben unabhängig von der menschlichen Subjektivität keine Bedeutung. Die Zeit ist einfach nur eine weitere Dimension des Raumes, und der Eindruck, den wir haben, wenn wir empfinden, wie Augenblicke vergehen. In unserer Wahrnehmung herrscht immer ein bestimmter Zeitpunkt. Wir erleben diesen Zeitpunkt zu einem Fluss von Zeitpunkten zugehörig. Die Zeit ist keine Illusion. Sie ist der beste Anhaltspunkt, den wir für die fundamentale Wirklichkeit haben. Wir Menschen nehmen die Zeit als Veränderung wahr. Die Zeit, zu der ein Ereignis stattfindet, wird relativ zu anderen Ereignissen gemessen – zum Beispiel anhand der Zeigerstellung einer Uhr. Alle Uhr- und Kalenderangaben sind relative Zeiten, genauso wie Adressen relative Postionen sind. Wir haben ganz unterschiedliche Beziehungen zur Vergangenheit und Zukunft. Dieser Zustand ist keine fundamentale Eigenschaft der Welt. Die scheinbaren Unterschiede zwischen der Zukunft und der Vergangenheit sind Konsequenzen sehr besonderer Anfangsbedingungen. Bei der Zeit geht es um Veränderung, was bedeutet, dass sie mit wahrgenommenen Beziehungen zu tun hat. So etwas wie eine absolute oder universale Zeit gibt es nicht. Die Tatsache ist, dass man, um es nachvollziehen zu können, nur glauben muss, dass die Gegenwart wirklich ist. Das Argument zwingt einen dann zu glauben, dass die Zukunft und die Vergangenheit ebenso wirklich wie die Gegenwart sind.

A: Machen wir für heute Schluss?

R: Ich bin derselben Meinung.