Die sechs Muster

R: Guten Morgen!

A: Guten Morgen, du siehst gut aus!

R: Ich konnte endlich einmal ausschlafen.

A: Möchtest du einen Tee?

R: Gerne!

A: Setz dich, ich stelle deinen Tee auf den Tisch. Milch und Zucker stehen auf dem Tisch.

R: Oh, der Tee ist frisch, danke. Ich habe zwei Stunden Zeit, danach muss ich zur Arbeit.

A: Ich muss erst am Nachmittag aus dem Haus. Wie schmeckt dir der Tee?

R: Er ist gut!

A: Jeder Mensch hat viele Charaktere. Er geht zur Arbeit, dann ist er ein Angestellter. Trifft er seinen Nachbarn, dann ist er ein Nachbar. Geht er zur Schule, dann ist er ein Schüler. Trifft er seine Eltern, dann ist er ein Sohn oder eine Tochter. Und wenn er sein Kind trifft, dann ist er eine Mutter oder ein Vater. Die Menschen können verschieden Charaktere haben.

R: Darüber habe ich gestern einen Artikel gelesen.

A: Was hast du gelesen?

R: Der Verfasser schreibt über die Lebensmuster und deren Inhalte bei Menschen. Er ist davon überzeugt, dass seine Entdeckung global sei, ob er ein Chinese, Afrikaner oder Europäer sei, wenn er sein Muster auslebe, so halte er sich dabei zwangsläufig an eins oder mehrere dieser sechs Muster.

A: Ich schenke dir und mir Tee ein, und höre dir zu!

R: Danke für den Tee. Die Muster sind folgende:

Das „Bis“ – Muster:  Wenn der Mensch des „Bis“ Muster erlebt, dann heisst sein Lebensmotto: „Ich darf keinen Spass haben, bis ich meine Arbeit fertig habe“. Dafür gibt es eine ganze Reihe möglicher Varianten, aber ihnen allen ist die Vorstellung gemein, dass „etwas Gutes sich nicht ereignen kann, bis etwas weniger Gutes zu Ende ist“. „Ich muss mich erst vollständig verstanden haben, ehe ich mich ändern kann“. „Das Leben beginnt mit Vierzig“! „Wenn ich erst in Pension bin, kann ich endlich reisen“. Wie bei allen Mustern wird auch das „Bis“-Muster sowohl kurzfristig wie auch langfristig ausgelebt.

Erik meint: „Wenn die Kinder erst mal gross und aus dem Haus sind, dann habe ich Zeit, mich zu erholen und all das zu tun, was ich schon immer wollte“.

Und Während er auf das grosse „Bis“ seines Lebens wartet, lebt er das gleiche Muster Tag für Tag in kurzen Zeiträumen aus. Er sagte zu seiner Frau: „Gut, ich komme schon und trink ein Gläschen mit dir, aber warte noch einen Augenblick, bis ich mit der Ablage fertig bin“.

Erik zeigt das „Bis“-Muster sogar beim Sprechen, nämlich im Satzbau. Er verwendet immer wieder einen Einschub. Er drückt sich etwa so aus: „Also ich habe meine Frau gesagt und übrigens habe ich meiner Tochter erst gestern das gleiche gesagt, dass wir mit dem Haus was unternehmen müssen“. Er unterbricht sich mitten im Satz, um einen weiteren Gedanken einzufügen.

 

Das „Nachdem“ – Muster: Das „Nachdem“-Muster ist das Gegenstück zum „Bis“. Wer in diesem Muster steckt, folgt dem Motto: „Zwar kann ich heute Spass haben, aber morgen werde ich dafür zahlen müssen“.

„Das ist ja eine tolle Party! Mein Gott, was werde ich da morgen früh wieder für ein Kopfweh haben“.

„Wenn du verheiratet bist, besteht das Leben nur noch aus Verpflichtung“.

„Ich stehe früh auf und gehe fröhlich in den Tag, aber abends bin ich dann doch arg müde“. Jemand mit einem „Nachdem“ – Muster gestaltet seine Sätze häufig so, wie das hier im ersten und im dritten Beispiel deutlich wird. Jeder Satz beginnt mit einem „Hoch“, dann kommt eine Wende, die häufig durch das Wort aber signalisiert wird, und was dann noch kommt, ist ein einziges „Tief“. Ein solcher Satz wirkt wie eine Miniaturausgabe des „Nachdem“ – Musters. Jemand mit einem „Nachdem“ – Muster glaubt, es dürfe ihm zwar heute noch gut gehen, aber nur um den Preis, dass es ihm morgen doch schlecht gehen würde.

 

Das „Niemals“ –  Muster: Das Muster „Niemals“ lautet: „Ich kann niemals bekommen, was ich mir am meisten wünsche“. Hans sagt oft, er wünschte sich eine dauerhafte Beziehung zu einer Frau. Bisher ist ihm das nie geglückt. Aber er sucht auch nie Orte auf, wo er Frauen kennenlernen könnte. Oft hat er gedacht, er ginge am liebsten nochmal zur Uni und würde promovieren. Aber bis jetzt hat er sich noch nicht einmal um ein Dissertationsthema bemüht.

Wenn jemand sich im „Niemals“ – Muster bewegt (oder richtiger: nicht bewegt), verhält er sich genauso. Er könnte erreichen, was er wollte, wenn er nur einen Schritt tun würde, aber den tut er nicht. Für das „Niemals“ –  Muster ist ein bestimmter Satzbau nicht festgestellt worden. Aber Menschen mit einem „Niemals“ –  Muster reden oft von negativen Inhalten und zwar in endloser Wiederholung, wie eine Schallplatte, die einen Sprung hat. Wenn sie dir am Mittwoch all sein Leid geklagt haben, dann tun sie das am Donnerstag erneut, als wäre tags zuvor gar nicht davon gesprochen worden.

 

A: Möchtest du noch einen Tee?

R: Der ist frisch und gut, ich trinke gerne noch Einen.

A: Ich schenke dir Einen ein und höre zu!

R: Danke für den Tee. Also Das „Immer“ –  Muster: Jemand mit einem „Immer“ –  Muster sagt: „Warum muss das ausgerechnet immer mir passieren“?

Susanne folgt dem „Immer“ –  Muster. Sie war dreimal verheiratet und wurde zweimal geschieden. Beim ersten Mal hat sie einen Mann geheiratet, der still, zurückhaltend und nicht sehr umgänglich war. Susanne hat mit ihm gebrochen, wie sie ihren Freundinnen erzählte, weil sie wirklich jemanden wollte, der dynamischer war. Zur Überraschung dieser Freundinnen hat sie bald darauf ihre Verlobung mit einem anderen Mann bekanntgegeben, der dem ersten glich wie ein Ei dem anderen. Auch diese Ehe hat nicht lange gedauert. Susannes dritter Mann ist ein sehr zurückhaltender, ruhiger und nicht dynamischer Typ und sie fängt gerade an, bei ihren Freundinnen seinethalben zu quengeln.

Leute mit dem „Immer“- Muster leben dieses aus wie Susanne, gehen ständig aus einer unbefriedigenden Beziehung, Arbeit oder Wohngegend hinaus in die nächste. Eine Variante sieht so aus, dass man bei der ursprünglichen unbefriedigenden Entscheidung bleibt, statt eine bessere zu treffen. Jemand, der nach dem „Immer“ –  Muster lebt, sagt dann etwa: „Also bis jetzt hat mir dieser Therapeut nichts gebracht. Aber, naja, ich denke, ich bleib mal dabei und hoffe halt, dass was dabei rauskommt“. Susanne drückt sich oft in einer Weise aus, die typisch ist für den Sprachgebrauch von jemand mit einem „Immer“ – Muster. Sie fängt einen Satz an und geht dann in eine andere Richtung. Dann steigt sie wieder um in eine andere Richtung und verlässt auch diese wieder usw. „Also, weshalb ich jetzt gekommen bin, das war… ach, als ich hierher unterwegs war, habe ich doch meine Freundin getroffen und die – oh, übrigens, ich habe noch Geld bei mir und…“

 

Das „Beinahe“ –  Muster:  Ein Mensch mit einem „Beinahe Typ1“ – Muster sagt: „Diesmal hätte ich es beinahe geschafft.“ Thomas leiht sich bei seinem Freund ein Buch. Wie er es zurückgibt, sagt er: „Besten Dank. Ich bin ganz durch, bis aufs letzte Kapitel“. Wenn Thomas seinen Wagen wäscht, kriegt er ihn fast ganz sauber, bis auf ein paar Dreckspritzer, die er übersehen hat. Aber auch längerfristig lebt Thomas sein „Beinahe“ –  Muster aus und so ist er auch in der Firma beinahe befördert worden. Aber obwohl er in die Nähe des Chefsessels gerückt ist, ist er doch noch nicht ganz hineingerutscht. Er kommt jedes Mal in die engere Wahl und jedes Mal geht dann beim entscheidenden Gespräch etwas schief. Jemand, der „Beinahe Typ 2“ umsetzt, wird wirkliche Hochleistungen vollbringen. Karin z.B. hatte immer Top-Zeugnisse und hat ihre Matur mit Glanz und Gloria gemacht. Sie hat dann studiert, ihr Examen mit Auszeichnung bestanden und bereitet sich jetzt intensiv auf die Habilitation vor. Alle Kolleginnen und Kollegen beneiden sie, aber Karin selbst hat keineswegs das Gefühl, sie habe „es geschafft“. Sie sagt ihren Freundinnen, sobald sie Privatdozentin sei, wolle sie eine ordentliche Professur anstreben. Das heisst, dann natürlich wieder, jahrelang konzentriert zu arbeiten und so hat sie nie Zeit für gesellschaftlichen Verkehr oder gar Freundschaften. Es gibt zwei unterschiedliche Satzmuster, die auf das „Beinahe“ – Muster hindeuten. Der Sprecher beginnt einen Satz und fährt mit einem anderen fort, den er zu Ende führt. „Also heute befasse ich mich in meiner Vorlesung mit – oh, übrigens, ich habe Ihnen auch einen Packen Fotokopien mitgebracht, den ich dann gleich verteile“. Oder aber der Zeitgenosse mit einem „Beinahe“ –  Muster stellt sich dar mit einer Kette von positiven Äusserungen, auf die dann eine einzige negative folgt. „Sehen die Bäume nicht herrlich aus im Herbst? Zudem ist es so schön warm und erst solch ein Licht! Allerdings ist die Luft kalt.“

 

Muster „mit offenem Ende“: Dieses Muster ähnelt dem „Bis- und „Nachdem“ –  Muster insofern, als es hier einen besonderen Punkt gibt, von dem an die Welt anders aussehen wird. Aber für jemanden mit einem Muster mit offenem Ende stellt sich die Zeit nach diesem Punkt wie ein grosses Vakuum dar. Es ist so, als wären die letzten Seiten eines Filmmusters verlorengegangen. David ist nach vierzig Dienstjahren bei seiner Bank gerade in Pension gegangen. Jetzt sitzt er zu Hause mit seiner schönen Urkunde und seiner goldenen Uhr. Er hatte sich so gefreut auf all die freie Zeit. Aber statt sie jetzt zu geniessen, hat er seltsamerweise ein ungutes Gefühl. Was soll er jetzt eigentlich mit sich anfangen? Wie wird er bloss die Zeit rumbringen?

Martina verabschiedet sich von ihrer Jüngsten. Es ist die Vierte, die nun auch auszieht und sie ist schon ganz erwachsen. Martina stellt mit einem Seufzer der Erleichterung fest: Nach diesen langen Jahren mit vier Kindern endlich keine Verantwortung mehr und vor allem weniger Arbeit! Aber ein, zwei Tage später fühlt sich Martina doch etwas bedrückt. Es gibt nicht mehr so viel Geschirr zu spülen und es liegt nicht einmal mehr schmutzige Wäsche herum, die es aufzuräumen und zu waschen gilt. Was soll sie bloss mit ihrer Zeit anfangen?

Das Muster mit offenem Ende zeigt sich sowohl kurz – wie auch langfristig. Es gibt Menschen, die sich ihr Leben lang immer nur kurzfristige Ziele setzen. Wenn sie diese erreicht haben, sind sie ratlos und wissen nicht, was sie anfangen sollen, bis wieder irgendetwas auf sie zukommt. Dann setzen sie ein weiteres kurzfristiges Ziel und der Prozess beginnt von neuem.

Das Motto des Musters mit offenem Ende heisst: „Sobald ich einen gewissen Zeitpunkt überschritten habe, weiss ich nicht, was ich dann mit mir anstellen soll.“

 

A: Trinkst du noch einen Tee?

R : Ja, gerne.

A: Ich schenke dir einen ein.

R: Danke, der Tee ist immer noch frisch und riecht gut. Eben diese sechs Muster bilden sich über einen gewisse Zeit erstreckenden Vorgang heraus. Sie sind nur die Prozesse, die sich im Verhalten und Erleben eines Menschen abspielen lassen.

A: Wie kann man aus diesen Prozessmustern aussteigen?

R: Ganz einfach, wenn du dich in deinem Prozessmuster nicht wohl fühlst, kannst du auch aussteigen. Von allen Persönlichkeitsveränderungen ist diese am leichtesten zu erreichen. Zunächst musst du dich daranmachen festzustellen, welches bzw. welche  deine eigenen hauptsächlichen Prozessmuster sind.

Hast du erst diese Einsicht, so setze dein bewusstes-Ich ans Steuer und verhalte dich in einer Weise, die das Muster aufbricht. Wenn dein Hauptmuster bisher „Bis“ gewesen ist, dann durchbrichst du das dadurch, dass du dir Spass gönnst, selbst wenn noch nicht alle Arbeiten getan sind.

Will jemand aus einem „Nachdem“ – Muster aussteigen, so geht es für ihn darum, den heutigen Tag so zu geniessen, dass er auch den folgenden noch geniessen kann. Ist er etwa auf einer Party, so geniesst er unbekümmert ein paar Gläschen, gerade genug, um Spass daran zu haben, aber nicht so viel, dass er sich den Tag danach durch seinen Kater jeden Genuss verdirbt.

Willst du das „Niemals“ – Muster durchkreuzen, denn entscheide erst, was du wirklich willst. Dazu schreibst du eine Liste mit fünf spezifischen Dingen, die du tun kannst, um dir deinen Wunsch zu erfüllen. Und dann setze jeden Tag einen der fünf Punkte davon in die Tat um.

Wenn du das „Immer“ Muster ausgelebt hast, dann mach dir klar, dass du die gleichen Fehler nicht immer wiederholen musst und dass kein Mensch dich zwingt, bei einer Sache zu bleiben, wenn es gar so arg kommt. Wenn du willst, kannst du auch eine unbefriedigende Arbeit, Beziehung oder Örtlichkeit hinter dir lassen und dich nach etwas Neuem und Besseren umsehen.

Aus „Beinahe Typ 1“ kannst du aussteigen, wenn du darauf achtest, dass du alles, was du anfasst, auch zu Ende führst. Wenn du das Zimmer putzt, so putzte es ganz. Wenn du ein Buch liest, lies alle Kapitel. Um den „Beinahe Typ 2“ zu entschärfen, gewöhne dir die wohltuende Geste an, dir für jeden deiner Erfolge auch die verdiente Anerkennung zu geben, und zwar gleich. Stelle eine Liste deiner Ziele zusammen und jedes Mal, wenn du eins erreicht hast, streiche es auf der Liste durch. Aber dann befasse dich nicht eher mit dem nächsten, bis du deinen Erfolg für das Vorhergehende auch gebührend gefeiert hast.

 

Hast du den Eindruck, man habe dir ein Muster mit offenem Ende verpasst, dann mach dir klar, dass in der Gabe deiner Eltern ein wertvolles Geschenk verborgen ist. Da bei deinem originalen Muster die letzten Seiten fehlen, hast du völlige Freiheit, das Schlusskapitel so zu gestalten, wie du willst.

 

Jedes Mal, wenn du dich in einer Weise verhältst, die im Gegensatz steht zu deinem Prozessmuster, schwächst du dieses Muster für die Zukunft ab. Und damit machst du es für dich auch leichter, aus deinem alten Prozessmuster weiter auszusteigen.

A: Ein informativer Artikel!

R: Ja, der Artikel ist interessant. Der Verfasser empfiehl dem Leser: Gehe die Beschreibungen durch, greife das Muster oder die Muster heraus, die für dich bisher typisch waren. Fühlst du dich wohl mit diesem Muster oder mit diesen Mustern, und willst du für dein zukünftiges Verhalten dabei bleiben? Wenn nicht, dann beschliesse wenigstens fünf Verhaltensweisen, die deinem Muster zuwiderlaufen. Fange gleich an und nimm dir jeden Tag wenigstens eine dieser Verhaltensweisen vor. Mach damit so lange weiter, bist du mit deiner Veränderung zufrieden bist.

A: Danke, die Beschreibung hat mir gefallen.

R: Danke für Tee, jetzt muss ich zur Arbeit, bis dann!

A: Einen schönen Arbeitstag noch!

R: Danke, dir auch einen schönen Tag!

 

 

 

Quellen

Stewart, Ian & Joines Vann. „Die Transaktionsanalyse“. Freiburg im Breisgau: Herder, 2002