IV.  Sonntagvormittag

A: Guten Morgen, sitzt du schon lange hier?

R: Ich bin früher aufgestanden, habe meine Sachen gepackt und den Zimmerschlüssel bei der Rezeption bereits zurückgegeben.

A: Den habe ich gerade auch beim Empfangsbüro zurückgegeben. Hast du schon gefrühstückt?

R: Noch nicht, ich habe auf dich gewartet. Eigentlich habe ich keine Lust aufs Frühstücken, lieber hätte ich einen Kaffee.

A: Ich hole uns Kaffee, möchtest du sonst noch etwas?

R: Nein, danke, ich hole uns Wasser.

A: Prima.

A: Ich stelle die Kaffeekanne auf den Tisch.

R: Ich hoffe, dass der heutige Kaffee besser als der gestrige ist!

A: Kaffee ist Kaffee! Wie schmeckt dir denn der heutige Kaffee?

R: Er ist besser als der gestrige.

A: Wunderbar, dann können wir ja schon beginnen.

R: Nicht so schnell, ich brauche noch Zeit.

A: Warst du gestern Abend lange wach?

R: Bevor ich mich ins Bett legte, dachte ich lange nach.

A: Über was hast du nachgedacht?

R: Gestern haben wir den Raum, die Zeit und das Bewusstsein thematisiert. Wir können heute über unseren Raum und unsere Zeit nämlich hier und jetzt diskutieren.

A: Würdest du bitte anfangen!

R: Unsere Erinnerungen sind tatsächlich unsere einzige Verbindung mit der Vergangenheit. Inzwischen können wir uns auf Fotografien und Videos stützen, die die Vergangenheit wieder lebendig werden lassen. Aber wenn wir ehrlich zu uns selbst wären, sind viele unserer Erinnerungen an frühere Ereignisse überhaupt keine wahren Erinnerungen. Sie sind die von Kameras eingefangenen Bilder. Selbst wenn wir über alle diese Fotos und Videos verfügen, schauen wir nicht alle genau jetzt an. Im Jetzt, in diesem Augenblick, sind sogar unsere Fotos und Videos nur ein Bezugspunkt in unserem Gedächtnis. Und was die Zukunft betrifft, haben wir es nicht mit festgelegten Dingen zu tun, sondern mit einer Ansammlung von Wahrscheinlichkeiten. Wenn du etwa an morgen denkst: Es kann sein, dass ich in der Nacht sterben werde. Für mich gäbe dann keinen morgigen Tag, jedenfalls nicht so, wie ich normalerweise damit umgehe. Ich kann nicht behaupten, morgen sei in irgendeinem Sinne real. Wenn ein Ausserirdischer in einer fliegenden Untertasse auftaucht und mich bittet, ihm die Olympischen Spiele, die in den nächsten vier Jahren stattfinden, zu zeigen, kann ich es nicht. Natürlich existieren die Olympischen Spiele, aber nicht in dem Sinne, dass ich zurzeit mit ihnen in Kontakt trete und sie fühlen kann. Dasselbe gilt für die Zukunft. Sie hat das Potenzial, in Erscheinung zu treten, aber ich kann sie nicht erleben. Deshalb ist die einzige Realität der unendlich kleine Schnipsel Zeit, der die Gegenwart darstellt, das Jetzt. Wir glauben, wir könnten mit längeren und kürzeren Zeiträumen jonglieren, aber in Wirklichkeit reden wir entweder über die zukünftige Zeit oder über eine Erinnerung an die vergangene. Wir erleben keine längeren Zeitabschnitte. Stell dir vor, du müsstest acht Stunden in einem kahlen Wartezimmer ohne Zeitschriften oder die Möglichkeit, irgendetwas zu tun, warten, um jemanden zu treffen. Wahrscheinlich würdest du sagen, es sei eine quälend lange Wartezeit gewesen. Aber eigentlich würdest du keine lange Zeit erleben. Du würdest voraussehen, welch lange Wartezeit vor dir liegt. Du würdest dich an eine lange Wartezeit erinnern, nachdem sie vorbei ist. Aber erleben würdest du stets nur den bruchstückhaften Augenblick des Jetzt.

A: Die gesamte Auffassung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft heisst die Zeit. Die Gegenwart ist der Punkt, an dem Vergangenheit und Zukunft aufeinandertreffen, eine Grenzstation in der Zeit, in der das Sein existiert. Die Existenzweise des Seins gibt es nur im Hier und Jetzt. Das Erleben des Liebens, der Freude, des Erfassens einer Wahrheit geschieht nicht in der Zeit, sondern im Hier und Jetzt. Hast du jemals etwas ausserhalb des Jetzt erlebt, getan, gedacht oder gefühlt? Glaubst du, dass du das je tust? Ist es möglich, dass irgendetwas ausserhalb des Jetzt geschieht oder ist? Nichts ist je in der Vergangenheit geschehen; es geschah im Jetzt. Nichts wird je in der Zukunft geschehen; es wird im Jetzt geschehen. Was du mit Vergangenheit bezeichnest, ist eine in deinem Verstand aufbewahrte Erinnerung an ein früheres Jetzt. Wenn du dich an die Vergangenheit erinnerst, reaktiverst du eine Erinnerungsspur – und das geschieht jetzt. Die Zukunft ist eine Vorstellung vom Jetzt, eine Projektion des Verstandes. Wenn die Zukunft eintrifft, trifft sie als das Jetzt ein. Wenn du über die Zukunft nachdenkst, dann tust du das jetzt. Unser Dasein, unsere Existenz, unser Leben spielt sich in der Zeit ab. Es fragt sich, wie können wir die Zeit gebrauchen?

R: Die enorme Schwierigkeit eines Gebrauchs der Zeit besteht darin, dass deren Seinsweise immateriell, unkörperlich, unsichtbar und unfassbar ist. Für die Führung unseres Lebens genügt es zu wissen, dass ein gegenwärtiger Zustand, der mit grosser Selbstverständlichkeit die Wirklichkeit allein für sich beansprucht, vergeht, und wenn er vergangen ist, ist er nicht wiederherstellbar. Wahrnehmbar ist der Prozess nur als vergangener, wahrnehmbar durch den Vergleich dessen, was ist, mit dem, was vergangen ist. Fatal an der Erfahrung von Zeit ist die Vergangenheit, die das Selbst sich zurückwünscht, um etwas noch einmal zu erleben oder um alles anders zu machen – diese vergangene Zeit kehrt aber nicht mehr zurück.

A: Bestimmt, die Vergangenheit bezieht sich auf das Erinnern, Nachdenken und Grübeln. Wir können die Vergangenheit weder konkret sehen, hören, tasten, riechen noch schmecken, dennoch wird sie in uns lebendig, sobald wir uns erinnern. Wir sind dazu fähig, die Vergangenheit zum Leben zu erwecken. Wir können eine Situation der Vergangenheit mit der gleichen Frische erleben, als geschehe sie im Hier und Jetzt; das heisst, wir können die Vergangenheit wieder erschaffen, ins Leben zurückrufen. Soweit einem dies gelingt, hört die Vergangenheit auf, vergangen zu sein, sie ist das Hier und Jetzt.

R: Die Zeit unseres Lebens ist kurz und aus diesem Grund gehört die Lebenszeit zur kostbaren Ressource, mit der sorgsam umzugehen ist, um sie nicht in der Kürze des jeweiligen Augenblicks zu verschleudern. Wer das Leben „lang“ haben will, erreicht dies nicht durch eine wie auch immer geartete Verlängerung des Lebens, sondern nur durch eine zeitliche Erweiterung des geistigen Horizontes, um den gegenwärtigen Vollzug der Existenz im Licht des Vergangenen – und zwar der Erfahrungen, die jemals gemacht und der Gedanken, die jemals gedacht worden sind – sowie des Künftigen nämlich der Möglichkeiten, die sich abzeichnen und die denkbar sind, zu sehen.

A: Die Erweiterung deines geistigen Horizontes verdichtet deine Lebenszeit in der jeweiligen Gegenwart. Du bewegst dich in den weiten Horizont dessen, was war, um aus diesem unendlichen Fundus deine Orientierung für die Gegenwart zu gewinnen. Hier handelt es sich nicht nur um das Verhältnis des Gegenwärtigen zum Künftigen, sondern auch um das Verhältnis des Wirklichen zum Möglichen.

R: Die Gegenwart ist die Zeit der Veränderung. Du, das Subjekt wählst unter den Möglichkeiten und Gegebenheiten wenige aus und setzt diejenigen, die in der unmittelbaren Gegenwart keinen Platz finden, „auf die Zeitschiene“, auf der sie der künftigen Realisierung, wenn die Umstände günstiger sind, von selbst entgegen gleiten.

A: Du teilst die Zeit in Abschnitte. Dies ermöglicht dir, die unfassbare Zeit fassbar und sie in überschaubaren Proportionen handhabbar zu machen. Diese aufeinander folgenden Zeitabschnitte erlauben dir einen Prozess hin zum fernsten Ziel in Gang zu setzen und dich dabei doch auf das jeweils Nächstliegende zu konzentrieren und ebenso im unabsehbaren Horizont des Künftigen, weit über das dein eigenes Leben hinaus, um das, was kommt, vorweg zu bedenken und vorzubereiten.

R: Um die Struktur, Form und Gestalt deines Lebens aufzubauen, versuchst du dich von engen Zeitbindungen zu lösen und diese eigenständig und situationsspezifisch zu gestalten. Deine Fähigkeit ist es, dich in schnell wechselnden Kontexten zurechtzufinden, Ereignisse auszumachen, aufzugreifen und zu verknüpfen. Das bedeutet für dich, die Zeit mit Absicht dorthin fliessen zu lassen, wo du sie mit sinnvollen Beschäftigungen erfüllen kannst.

A: Parallel existiert noch die leere Zeit, in der neue Gedanken gedacht und alte Erfahrungen verarbeitet, andere Gedanken aufgenommen und neue Erfahrungen gemacht werden. Der leeren Zeit wird der Vorteil zugeschrieben, sie sei frei von Ziel und Zweck. Die leere Zeit lässt dich imstande sein, auf Distanz zum Gedränge der Gegenwart zu gehen, es gleichsam von aussen zu sehen und die Dimension des Künftigen wieder in den Blick zu bekommen. Die Zeit ist damit auch eine spezifische Art und Weise, mit Anderen, mit Dingen und mit sich selbst umzugehen, die von Aufmerksamkeit geprägt ist.

R: Was uns Menschen im Kern ausmacht, sind Geist und Bewusstsein, Gedanke, Wille und Gefühl. Das unterscheidet uns von vielen anderen Lebewesen. Unser Leben liegt in unserer Hand. Wir selbst können darüber bestimmen, ob wir glücklich oder unglücklich sind, subjektiv erfolgreich oder erfolglos, ob wir Liebe finden oder in emotionaler Isolation gefangen bleiben.

A: Wir wünschen uns Gesundheit, Freude, Freiheit, Wohlbefinden, Harmonie, Liebe. Schon schwieriger gestaltet sich die Antwort darauf, wie wir das alles erlangen können. Letztlich richten wir unser gesamtes Leben danach aus, glücklich zu sein – selten mit befriedigenden Ergebnissen. Es scheint, als jagten wir unserem Glück hinterher, welches wir niemals ganz erreichen. Wir probieren alles Mögliche aus, wirklich glücklich werden wir nur in Ausnahmefällen.

R: Schauen wir noch einmal nach draussen, zum Baum. Bestimmt ist uns mittlerweile klar, dass die Realität zwar eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, aber in Wahrheit mit den Sinnen nicht vollständig erfasst werden kann. Wir schauen uns um und zwar meinen: Das, was ich sehe, ist Wirklichkeit – der Baum, die Wolke, die Stadt. Wir denken sogar: Selbst wenn ich nicht hinschaue, ist die Realität immer noch da. Und doch existiert keine Realität unabhängig vom Betrachter.

A: Von Kindesbeinen an bis ins hohe Erwachsenenalter machen wir individuelle Erfahrungen. Wir lernen eine Menge, werden dabei aber auch konditioniert – durch unsere Eltern und das weitere Umfeld, durch Gesellschaft und Kultur. Unsere Erfahrungen sind also nicht offen, sondern folgen immer stärker erlernten und verinnerlichten Wahrnehmungsrastern. Wir machen es uns zur Gewohnheit, die Welt aus einem allgemein akzeptierten Blickwinkel zu erfassen.

R: Nun, das Bewusstsein besteht aus verschiedenen Ereignissen, die schwingend und vibrierend über das Gehirn verteilt sind. Während das Bewusstsein und das Unterbewusstsein ihre Informationen dem Geist zuführen, hat der Wille eine andere Funktion: Er dirigiert die Informationen zielgenau und ordnet sie zum Muster künftigen Handelns. Die Motivation ist schliesslich dafür verantwortlich, dass wir bestimmte Informationen erwarten. Es kann wohl gesagt werden, dass die Motivation der Wille des Unterbewusstseins ist. Denn wir machen schon beinahe ausschliesslich zielgerichtete Erfahrungen, fragen also bewusst und unbewusst nach dem Nutzen dessen, was uns begegnet.

A: Richten wir unsere Aufmerksamkeit nun einen Moment lang auf das, was wir Bewusstsein nennen. Bei Informationen, die wir bewusst verarbeiten, verlassen wir das Ebene des angeborenen Instinkts. Stattdessen lernen wir im Einklang mit unserem Umfeld, wie wir Situationen interpretieren sollen. Wir können daraus schliessen, dass sich die Wahrnehmung im Sinne erlernter Programme formt. Dabei wird einerseits der Neokortex des Gehirns aktiv. Er ist das Werkzeug, mit dem wir nach der Logik des Verstandes unsere Welt wahrnehmen. Andererseits wird aber gleichzeitig das Mittelhirn aktiv, um zwischen wichtig und unwichtig, positiv und negativ zu unterscheiden.

R: Auf der einen Seite stehen daher das angeborene Bewusstsein und Unterbewusstsein, die engstens mit der Welt der Ideen für Konstruktions- und Funktionsmöglichkeiten verbunden sind, wie dies im Evolutionsprozess ersichtlich ist. Auf der anderen Seite stehen das angeborene individuelle Bewusstsein und Unterbewusstsein, die eng mit der Welt der Formen, Gestalten und Strukturen verbunden sind. Diese Welt wird durch unsere Sinne ausgelotet. Sie formt das Ich und im Laufe der persönlichen Entwicklung das Ego. Ich und Ego erschaffen aus Strukturen und angeeigneten Mechanismen schliesslich eine eigene Erlebniswelt, die wir Innenwelt nennen können.

A: Wir stehen prinzipiell in andauernder Verbindung mit der Innenwelt. Als Welt der Ideen entzieht sie sich jedoch den vertrauten Gesetzen der Materie. So ist zu erklären, dass darin die physikalischen Gesetze von Zeit und Raum, die an Materie gebunden sind, keine Gültigkeit mehr haben. Wer im Kontakt mit dieser Welt steht, befreit sich von der Welt der Materie und kann sich auch über erlernte Muster hinwegsetzen. Er ist nicht länger ein Gefangener seines Egos mit allen begleitenden Einschränkungen. Stattdessen schaut er sozusagen über den Tellerrand des Ich und öffnet sich für globale sowie universale Informationen. Gewohnheiten und Konventionen engen ihn nicht länger ein – er wird offen und selbstbestimmt.

R: Wir leben also einerseits geistig, unabhängig von Raum und Zeit und andererseits erdgebunden im Hier und Jetzt. Wir erleben zunächst die Alltagswelt, die von der Ich-Instanz geformt wird. Die Alltagswelt umfasst aktuelle Sinneswahrnehmung, auch das Planen und Kalkulieren des Ich. Alles, was das Ich daraufhin erlebt, wird wie auf einer Festplatte mit unbeschränkter Speicherkapazität in der Innenwelt abgespeichert. Der Informationsaustausch mit dem Speicher entsteht durch Gedanken, Erinnerungen, Fantasien, Ideen, Träume. Ohne unsere Innenwelt, und damit auch Erlebniswelt, sind wir verloren und treiben orientierungslos in einem Meer sinnloser Reize, ohne in der Lage zu sein, die Vergangenheit oder uns selbst zu verstehen.

A: Ich habe Hunger.

R: Ich hole uns den Kuchen, den wir gestern nicht verzehrt haben. Er ist immer noch im Kühlschrank. Ich bin gleich bei dir.

A: Schnell bist du mit dem Kuchen da! Ich schenke dir einen Kaffee ein. Ist der Kuchen noch gut?

R: Ich glaube schon, danke für den Kaffee, er schmeckt gut. Machst du weiter?

A: Eben, in der Alltagserfahrung sind viele Vorgänge nicht umkehrbar. Ein Glas Wasser, das vom Tisch zu Boden fällt und zerbricht, zeigt das normale und erwartete Verhalten. Ein Glas, das zerbricht, eine Kerze, die abbrennt, Tinte, die verschüttet wird, Parfüm, dessen Duft sich verbreitet, eine Blume, die verwelkt, das Fleisch, das verdirbt, unser Körper, der mit dem Tode zerfällt. In allen Fällen wird Ordnung in Unordnung umgewandelt. Tatsächlich geschehen die Dinge von selbst immer so, dass ein geordneter Zustand in einen ungeordneten Zustand übergeht. Letztendlich können wir diesem Prozess, das heisst dem der Entropie nicht entkommen und damit auch nicht der Bewegung von Ordnung zu Zerfall und Unordnung. Wir sind alle diesem Prozess unterliegen. Dieser Prozess gilt für die Vergänglichkeit aller Materie – vom zerbrochenen Porzellankrug bis hin zur Sterblichkeit des Menschen und des Universums selbst. Der Vorgang von Veränderung und Abbau ist unvermeidbar. Es scheint, dass alles verfällt und in Unordnung gerät.

R: Gewiss! Und wenn ich diesen Zitronenkuchen voller leckerer geordneter Energie koste, verarbeitet ihn mein Körper und verwandelt ihn in ungeordnete Energie in mir. Diese ungeordnete Energie in mir gibt mir Energie zum Leben. Tatsächlich stärkt sich die Energie dabei selbst. Es ist bemerkenswert, dass die Evolution unsere Körper so geschaffen hat, dass sie nach demselben Prinzip funktionieren. Wir Menschen sind Lebewesen mit einem Ich-Bewusstsein. Die Tendenz zur Unordnung ist für uns nutzbar und konstruktiv. Unser Bewusstsein ist aus mehreren Untereinheiten des Gehirns zusammengebastelt und bietet uns ein Modell der Welt. Unser Bewusstsein fühlt sich immer glatt und kontinuierlich an. Wir können die Bewegung von Ordnung zur Unordnung zu Nutze machen.

A: Was du nicht sagst!

R: Machst du weiter?

A: Gerne, um einen anschaulichen Eindruck von dem, was du erwähnt hast, zu bekommen, stellen wir uns vor, dass wir bei einem Exemplar von Tolstois Krieg und Frieden den Einband entfernen und doppelseitig gedruckten Blätter hoch in die Luft werfen, um sie anschliessend einzusammeln und zu einem ordentlichen Stapel aufzuschichten. Wenn wir uns nun den Stapel ansehen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Blätter ungeordnet sind, viel grösser als die, dass sie geordnet sind. Der Grund liegt auf der Hand. Die Blätter haben viele Möglichkeiten, ungeordnet zu liegen, aber es gibt nur eine, welche die korrekte Ordnung herzustellen vermag. Um geordnet zu sein, müssen die Seiten natürlich in der Reihenfolge 1,2,3,4,5,6, und so fort bis 1385, 1386 aufeinander liegen. Jede andere Verteilung ist ungeordnet. Sind die Seiten nicht in der richtigen Reihenfolge gestapelt, haben wir rund 10 hoch 1878 verschiedene Möglichkeiten, die für eine ungeordnete Verteilung der Seiten im Stapel in Frage kommen.

R: Nun, wenn wir unser Dasein mit der Reihenfolge der Seiten des Buches vergleichen, erkennen wir, dass unser Leben aus vielen kleinen Feinabstimmungen und deren Zusammenhalt besteht. Das betrifft die Entstehung unserer Planeten, das flüssige Wasser, die Jahreszeiten und die Bildung des Mondes ebenso wie den Asteroid, der die Dinosaurier erlöscht und unserer Spezies die Existenz ermöglicht. Viele feine kleine Akklimatisationen mussten geschehen, vergleichbar mit der Reihenfolge der Seiten des Buches, damit wir hier sitzen und uns miteinander unterhalten. Wir haben Glück und sogar ein Schweineglück! Obwohl die Evolution weder einen Plan noch einen Zweck hat, sollen wir ihr dankbar sein – wir existieren, wir sind da.

A: Wenn das Leben einen Sinn hat, wie sieht dieser Sinn aus? Wer glaubt heute noch, dass Erkenntnisse der Astronomie, der Mathematik, der Biologie, der Physik und der Chemie uns etwas über den Sinn der Welt, ja auch nur etwas darüber lehren könnten? Und über welchen Weg könnten wir einem solchen Sinn – wenn es ihn gibt – auf die Spur kommen? Angesichts der ungeheuren Ausdehnung des Kosmos, die sich in den Geräten der Astronomen offenbart – Geburt und Tod von Riesensternen, die viel grösser als unsere Sonne sind und ein Universum, das seit Milliarden von Jahren expandiert, als explodiere es -, lässt sich kaum vorstellen, dass all das nur zu dem Zweck inszeniert worden ist, um der Menschheit auf einem winzigen Planeten, der einen unbedeutenden Stern umkreist, einen Sinn zu geben.

R: Ich glaube nicht, dass die Erde für die Menschen geschaffen wurde. Sie ist ein Planet, der durch natürliche Prozesse entstanden ist und in Fortführung dieser natürlichen Prozesse Leben und Intelligenz hervorgebracht hat. Genauso bin ich der Meinung, dass das Universum durch irgendeinen natürlichen Prozess geschaffen wurde und dass unsere Erscheinung in diesem Universum das vollkommen natürliche Ergebnis physikalischer Gesetze in unserer besonderen Region des Universums ist. Ich glaube nicht daran, dass es irgendeine treibende Kraft gibt, die über die menschliche Existenz hinausweist. Daran glaube ich nicht. Letztendlich glaube ich, dass das Universum aus menschlicher Sicht völlig sinnlos ist.

A: Ich denke, meine Auffassung vom Leben ist, dass du dein Leben lebst und dieses kurz ist. Es kommt darauf an, dass du möglichst viel daraus machst. Eher glaube ich an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart und nicht an einen Gott, der sich mit dem Schicksal und den Handlungen der Menschen abgibt. Einen Gott, der die Objekte seines Schaffens belohnt und bestraft, kann ich mir nicht einbilden. Für mich ist der eigentliche Sinn des Lebens diesem selbst einen Sinn und eine Bedeutung geben. Es ist unser Schicksal, dass wir unsere Zukunft selbst gestalten müssen.

R: Nach meiner eigenen gefühlmässigen Einstellung hat das Leben einen Zweck. Der ist letztlich, nehme ich an, der Zweck, den wir ihm selbst geben und kein Zweck, der aus irgendeinem kosmischen Plan erwächst. Ich glaube, dass Freud mit all seinen Spekulationen über die düsteren Aspekte des Unterbewusstseins der Wahrheit nicht so nahe kam wie mit der Feststellung, dass unser Geist Stabilität und Sinn vor allem aus Arbeit und Liebe gewinnt. Die Arbeit gibt uns ein Gefühl der Verantwortlichkeit und Sinnhaftigkeit, einen konkreten Rahmen für unsere Mühen und Träume. Arbeit versieht unser Leben nicht nur mit Disziplin und Struktur, sie vermittelt uns auch das Empfinden von Stolz, Leistung und Erfüllung. Und Liebe ist eine unentbehrliche Voraussetzung, um uns in das soziale Beziehungsgeflecht einzubinden. Ohne Liebe sind wir desorientiert, leer und wurzellos.

A: Neben der Arbeit und der Liebe möchte ich noch zwei Aspekte nennen, die dem Leben Sinn und Bedeutung verleihen. Erstens sollten wir die Begabungen nutzen, mit denen wir geboren worden sind. Auch wenn wir von Natur aus mit besonderen Fähigkeiten und Stärke gesegnet sind, müssen wir versuchen, sie vollständig zu entwickeln, statt sie verkümmern zu lassen. Und statt dem Schicksal Vorwürfe zu machen, sollten wir uns lieber akzeptieren, wie wir sind und versuchen, die Träume zu verwirklichen, die im Rahmen unserer Fähigkeiten liegen. Zweitens sollten wir versuchen, unser Leben so zu leben, dass die Welt, wenn wir sie verlassen, etwas besser ist als zu dem Zeitpunkt, wo wir sie betreten haben. Auch als Einzelne können wir unsere Spuren hinterlassen – egal, ob wir die Umwelt bewahren, uns für Frieden und soziale Gerechtigkeit einsetzen, …

R: Es ist 11:30 Uhr. Entweder gehen wir zu Fuss oder fahren wir mit der Bahn.

A: Du hast recht. Ich habe einen Rucksack und bin somit mobil.

R: Ich nehme auch meinen Rucksack. Komm wir machen uns auf den Weg! Sieh dort ist die Eingangstür, wir sind gleich draussen.

A: Zum Glück scheint die Sonne am Himmel.

R: Bis zur Bahnstation müssen wir sowieso zu Fuss gehen.

A: Der Weg ist zwar nicht lang, dafür geht er steil den Berg hinunter. Ich muss mich auf meine Schritte konzentrieren.

R: Geht es?

A: Ja, langsam schon!

R: Hast du schon einmal von den zehn Geboten gehört?

A: Ja, wieso fragst du?

R: Für mich gibt es vierzehn Gebote, die uns Sinn und Bedeutung verleihen.

A: Bitte, ich höre!

R: Also ich fange an:

  • Was du nicht willst, dass man dir tue, das füge auch keinem anderen zu.
  • Strebe immer danach, keinen Schaden anzurichten.
  • Behandele deine Mitmenschen, andere Lebewesen und die Welt im Allgemeinen mit Liebe, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Respekt.
  • Sieh über Böses nicht hinweg und scheue dich nicht, Gerechtigkeit walten zu lassen, aber sei immer bereit, schlechte Taten zu verzeihen, wenn sie freimütig eingestanden und ehrlich bereut werden.
  • Führe dein Leben mit einem Gefühl von Freude und Staunen.
  • Strebe stets danach, Neues zu lernen.
  • Stelle alles auf den Prüfstand. Miss deine Ideen immer an den Tatsachen und sei bereit, auch lieb gewordene Überzeugungen über Bord zu werfen, wenn sie sich nicht mit der Wirklichkeit vereinbaren lassen.
  • Versuche nie, zu zensieren oder dich von Meinungsverschiedenheiten abzukapseln; respektiere immer das Recht der anderen, anderer Meinung zu sein als du.
  • Bilde dir aufgrund deiner eignen Vernunft und Erfahrung eine unabhängige Meinung, lass dich nicht blind von anderen führen.
  • Stelle alles infrage.
  • Erfreue dich an deinem eigenen Sexualleben (solange es keinem anderen Schaden zufügt) und lass andere sich ihrer ebenfalls erfreuen, ganz gleich, welche Neigung sie haben – die gehen dich nichts an.
  • Diskriminiere oder unterdrücke nicht aufgrund von Geschlecht, Rasse oder (soweit möglich) biologischer Art.
  • Indoktriniere deine Kinder nicht. Bring ihnen bei, selbständig zu denken, Belege zu beurteilen und anderer Meinung zu sein als du.
  • Beurteile die Zukunft nach einem Zeitmassstab, der grösser ist als dein eigener.

A: Hast du mal von den vier Naturkräften gehört?

R: Ja, warum fragst du?

A: Ich habe eben vier Taten, die uns Kraft verleihen und glücklich machen.

R: Erzähle, ich höre zu!

A: Punkt eins: Als erstens gehst du heute früh schlafen – viel schlafen sorgt nämlich dafür, am nächsten Tag nicht so anfällig für negative Gefühle und Erinnerungen zu sein. Denn sie werden vom Mandelkern im Gehirn verarbeitet. Positive und neutrale Erinnerungen dagegen verarbeitet der Hippocampus, nämlich unser Gedächtniszentrum. Und zu wenig Schlaf beeinträchtigt leider den Hippocampus mehr als den Mandelkern. Der zweite Punkt lautet: Raus an die frische Luft. Zehn Minuten spazieren verbessern deine Laune und dein Arbeitsgedächtnis. In diesem Zeitabschnitt, in denen du Druck ablässt, tankt dein Geist neue Energie.

Nun, der Punkt drei bedeutet: Du muss dich bewegen. Sport, und wenn es nur ein paar Minuten sind, gilt als eines der besten Mittel, um das Wohlbefinden zu steigern und Depressionszustände zu mindern. Das liegt an den Glückhormonen, die er freisetzt.

Der Punkt vier ist: Viel Zeit mit Familie und Freunden verbringen. Erst Beziehungen machen unser Leben lebenswert – und auch hier zählt wie bei vielem Anderen –Qualität statt Quantität.

R: Also, wir sind an der Bahnstation eingetroffen. Was machen wir jetzt?

A: Lass uns nachdenken!

R: Ich sehe nach dem Fahrplan, ich bin gleich bei dir!

R: Der Zug fährt in 10 Minuten.

A: Wir nehmen den Zug und sind in 20 Minuten am Bahnhofsplatz.

R: Ja, das war’s!

A: Ja, nun heisst’s zurück in den Alltag.

 

 

 

Quellen:

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