A: Hallo, ich bin zu Hause, wo bist du?
R: Ich bin in der Küche, musstest du länger arbeiten?
A: Nein, im Gegenteil, ich habe meine Arbeit früher beendet und bin einkaufen gegangen. Würdest du mir den Gefallen tun, einen Tee zu kochen?
R: Das mache ich. Was hast du gekauft?
A: Ich wollte eine schwarze Jeanshose kaufen. Als ich eine gefunden hatte, ging ich zur Verkäuferin und fragte: „Wie viel kostet diese schwarze Hose?“ Und sie fragte mich: „Welche schwarze Hose?“ Danach sagte ich: „Diese schwarze Hose, die ich in der Hand habe.“ Und sie sagte mir: „Das ist doch keine schwarze Hose, das ist eine blaugrüne Hose!“ Bis dahin war mir nie bewusst gewesen, dass ich farbenblind bin. Die Hose war mir zu teuer, ich bedankte mich bei der Verkäuferin und verliess den Laden.
R: Dein Tee ist bereit, Zucker und Milch stehen schon auf dem Tisch. Nun höre ich dir zu.
A: Danke für den Tee. Als ich zum Parkplatz ging, wo mein Auto parkiert war, fragte ich mich, wie ich jemals wieder meinen Sinnen trauen kann und dem, was sie mir über die Aussenwelt verraten. Ich stieg dann ins Auto, fuhr nach Hause und fragte mich folgendes: Wenn ich meinen Sinnen nicht trauen kann, wie soll ich dann jemals hoffen können, irgendetwas mit Sicherheit über die äussere Wirklichkeit zu erfahren? Plötzlich sah ich, dass das Armaturenbrett meines Autos eine aufleuchtende Meldung „MOTOR CHECKEN“ zeigte. Ich fuhr direkt in die Werkstatt, der Mechaniker hatte Zeit und kontrollierte das Auto gründlich, aber fand nichts. Er sagte, dass das Auto spinne. Nachher bin wieder nach Hause gefahren und nun sitze ich in der Küche und rede mit dir. Gibt es noch Tee?
R: Ich bereite welchen vor und höre dir zu.
A: Schliesslich habe ich doch alles, was ich über die äussere Welt und meine unzuverlässigen Sinne weiss, mit Hilfe meiner Sinne erfahren. Ich gleiche demjenigen Gefangenen, der sein Leben in Einzelhaft zubringt und seine einzigen Informationen über die Aussenwelt von den Aussagen seines unzuverlässigen Gefängniswärters geprägt sind. Das ist ein Dilemma. Wie kann ich, allgemeiner formuliert, dem trauen, was meine bewusste Wahrnehmung mir über die Welt erzählt, wenn ich nicht verstehe, wie mein Intellekt funktioniert?
R: Zwei Tassen Tee mit Rum sind fertig, ich bringe sie. Nun, ich bin nicht farbenblind und betrachte die äussere Wirklichkeit in diesem Moment mit meinen eigenen Augen und ich müsste paranoid sein, um anzunehmen, dass sie nicht so ist, wie sie aussieht. Aber das stimmt nicht!
A: Was meinst du?
R: Drehe deinen Kopf ein paar Mal von links nach rechts.
A: Das tue ich…
R: Jetzt bewege deine Augen ein paar Mal von links nach rechts, ohne dabei deinen Kopf zu bewegen.
A: Das mache ich…
R: Du hast sicher bemerkt, wie sich beim ersten Mal die äussere Wirklichkeit zu drehen schien, während sie beim zweiten Mal stillstand, obwohl sich deine Augäpfel in beiden Situationen drehen?
A: Ja, das stimmt, was ist der Grund?
R: Hier geschieht einiges: Was dein inneres Auge sieht, ist nicht die äussere Wirklichkeit, sondern ein in deinem Gehirn gespeichertes Wirklichkeitsmodell!!! Wenn du deinen Kopf nach rechts und links drehst, beweisen deine Augen, dass sie eine Art biologische Videokamera sind. Würdest du dir das von einer rotierenden Videokamera aufgenommene Bild ansehen, könntest du eindeutig die Bewegung erkennen. Und wenn du deine Augen bewegst, ohne deinen Kopf zu bewegen, deutet es darauf hin, dass dein Bewusstsein die auf der Netzhaut sich aufbauenden Bilder nicht unmittelbar wahrnimmt. Vielmehr wird die von deinen Netzhäuten aufgezeichnete Information, wie Neurowissenschaftler inzwischen detailgetreu untersucht haben, auf hochkomplizierte Weise verarbeitet und eingesetzt, um ein anspruchsvolles Modell der in deinem Gehirn gespeicherten Aussenwelt auf den neusten Stand zu bringen.
A: Was für eine Neuigkeit!
R: Riskierst du einen weiteren Blick auf die Welt vor deinen Augen, dann wirst du sehen, dass dein Realitätsmodell dank dieser fortgeschrittenen Informationsverarbeitung dreidimensional ist, obwohl die Rohbilder auf deinen Netzhäuten zweidimensional sind.
A: Das verstehe ich nicht ganz!
R: Machen wir ein Experiment, bitte steh auf und geh mit geschlossenen Augen ein paar Schritte hin und her. Kannst du „sehen“ oder „fühlen“, wie sich die Objekte in der Küche relativ zu dir bewegen? Das ist dein Wirklichkeitsmodell, das gerade auf den neusten Stand gebracht wird und das dieses Mal eher die Information deiner Beinbewegung benutzt als die deiner Augen.
A: Okay, ich öffne meine Augen wieder und setze mich.
R: Dein Gehirn aktualisiert sein Wirklichkeitsmodell fortlaufend und nutzt dabei jede geeignete Information, der es habhaft werden kann. Dazu gehören auch Klang, Berührung, Geruch und Geschmack. Dieses Wirklichkeitsmodell wird deine innere Wirklichkeit genannt, weil es die Art und Weise ist, wie du subjektiv die äussere Wirklichkeit aus der Innenperspektive deines Intellekts wahrnimmst. Diese Wirklichkeit ist auch insofern eine innere Angelegenheit, als es sie nur intern für dich gibt: Dein Geist vermittelt dir den Eindruck, als betrachte er die Aussenwelt, während er in Wirklichkeit nur ein Wirklichkeitsmodell in deinem Kopf anschaut – kontinuierlich verfolgt er, was draussen passiert mittels anspruchsvoller, aber automatischer Vorgänge, die dir nicht bewusst sind.
A: Das Wirklichkeitsmodell sowie die innere Wirklichkeit könnten uns täuschen…!
R: Die innere Wirklichkeit deines Gehirns ist mit dem Armaturenbrett deines Autos vergleichbar: Ein bequemer Überblick über die nützlichsten Informationen. Und genauso wie das Armaturenbrett in deinem Auto Geschwindigkeit, Benzinstand, Motortemperatur und andere für den Fahrer nützliche Dinge anzeigt, zeigt dir das Armaturenbrett deines Gehirns oder dein Wirklichkeitsmodell deine Geschwindigkeit, deinen Aufenthaltsort, das Ausmass deines Hungers, die Lufttemperatur und die entscheidenden Ereignisse in deiner Umgebung sowie andere nützliche Dinge an, deren sich der Besitzer eines menschlichen Körpers bewusst sein sollte. Mit einer falschen Meldung schickt dich dein Auto in die Werkstatt. Obwohl nichts kaputt war, kommt die Meldung, dass das Auto plötzlich aufhören könnte zu funktionieren. Auf die gleiche Weise gibt es viele Möglichkeiten, wie das Wirklichkeitsmodell eines Menschen versagen und sich von der wahren äusseren Realität unterscheiden kann. Das kann zu Täuschungen, sprich falscher Wahrnehmung von Dingen, die in der äusseren Wirklichkeit existieren führen sowie zu Auslassungen, nämlich die Nichtwahrnehmung von Dingen, die in der äusseren Wirklichkeit existieren und Halluzinationen, also Wahrnehmung von Dingen, die in der äusseren Wirklichkeit nicht existieren. Besinne dich einen Augenblick, wenn du unter Eid schwörst, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Du solltest dir dabei bewusst sein, dass deine Wahrnehmung alle drei Stufen der Wahrheit durch Täuschungen, Auslassungen beziehungsweise Halluzinationen verletzen könnte. Bildlich gesprochen war demnach der Vorfall „MOTOR CHECKEN“ eine Halluzination deines Autos oder es erlebte einen Phantomschmerz. Und wie sieht es bei dir aus, hast du noch Interesse?
A: Zum Glück habe ich noch nie unter Eid geschworen. Ja, ich mag noch, erzähl mehr bitte!
R: Ich glaube, wenn es darum geht, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, ist es der zweite Teil, der für die unterschiedliche Darstellung der Wirklichkeit verantwortlich ist. Dabei geht es um das, was ausgelassen wird. Ich glaube, dasselbe trifft auf unsere Sinne zu: Obwohl Halluzinationen und Täuschungen hervorgerufen werden können, sind es doch die Auslassungen, die für den grössten Teil der Diskrepanz zwischen inneren und äusseren Wirklichkeiten verantwortlich sind. Dein visuelles System liess die Information aus, die zwischen schwarzer und blaugrüner Hose unterscheidet. Doch selbst wenn man nicht farbenblind ist, verpasst man den Grossteil der Information, die das Licht bereithält. Als man uns in der Schule und in der Physikstunde beibrachte, dass sämtliche Farben des Lichts durch die Vermischung der drei Primärfarben Rot, Grün und Blau zustande kommen, dachten wir, dass diese drei Farben und gerade diese Zahl Drei uns etwas Grundsätzliches über die äussere Wirklichkeit mitteilt. Aber da lagen wir falsch: Sie sagt uns lediglich etwas über die Auslassungen unseres visuellen Systems, insbesondere dass unsere Netzhaut drei Arten von Zapfenzellen hat, die die viele Tausend Zahlen, die in einem Lichtspektrum gemessen werden können, aufnehmen und nur drei Zahlen behalten, die der durchschnittlichen Lichtstärke in drei umfassenden Wellenlängenbereichen entsprechen, nämlich den drei Wellenlängen Rot, Blau und Grün. Daraus kann man schliessen: Jeder von uns hat seine eigene persönliche innere Wirklichkeit, die aus der subjektiven Perspektive unserer eigenen Position, Orientierung und unseres Bewusstseinszustands wahrgenommen sowie von unseren persönlichen kognitiven Verzerrungen verfälscht wird. In deiner inneren Wirklichkeit sind Träume real und die Welt scheint verkehrt zu sein, wenn du auf deinem Kopf stehst.
A: Was ist die Wirklichkeit?
R: Wirklichkeit hat für viele Menschen unterschiedliche Bedeutungen. Ich glaube, dass Wirklichkeit das ist, was wirkt, was wir mit Hilfe unserer Sinne wahrnehmen, was wir erfahren und was wir für Wirklichkeit halten. Wie einst ein Wissenschaftler bemerkte, besteht die Wirklichkeit nicht nur aus den Dingen, über die wir bereits Bescheid wissen: Sie schliesst auch Dinge ein, die existieren, von denen wir nichts wissen werden. Wir erfahren und erleben die Wirklichkeit, indem wir sie direkt mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen oder indem wir unsere Sinne mit Instrumenten unterstützen. Wir tun dies auch, indem wir ein Modell von dem entwickeln, was Wirklichkeit sein könnte und dann überprüfen, ob die Modelle die Dinge richtig voraussagen, die wir mit oder ohne die Unterstützung durch Instrumente beobachten können. Unser Gehirn arbeitet nach dem modellabhängigen Realismus. Unsere Sinne sind nur mangelhaft. Unsere Augen sehen nur ein stark verzerrtes Bild. Erst unser Gehirn konstruiert daraus ein Modell, das wir dann als „Wirklichkeit“ wahrnehmen. Letztlich hängt es immer irgendwie von unseren Sinnenorganen ab.
A: Was ist deiner Meinung nach die äussere Wirklichkeit?
R: Die äussere Wirklichkeit ist das, was ausserhalb von dir steht, was ausserhalb deiner eigenen physikalischen sowie geistigen Wahrnehmung existiert. Die äussere Wirklichkeit ist eine verbreitete Vorstellung, sie existiert unabhängig vom Menschen. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn du Wasser trinkst. Das Wasser existiert in der äusseren Wirklichkeit, nicht in dir. Du bestehst aus Wasser, du kannst ohne Wasser nicht existieren, aber Wasser existiert auch ohne dich. Man lebt in der äusseren Wirklichkeit und hat eine innere Wirklichkeit. Die äussere Wirklichkeit existiert ohne dich, mich, die Erde… Die äussere Wirklichkeit, ist die materielle Welt, die, wie ich glaube, auch dann existieren würde, wenn es uns Menschen nicht gäbe. Und wenn man an eine von Menschen unabhängige äussere Wirklichkeit glaubt, dann kann man auch daran glauben, dass unsere materielle äussere Wirklichkeit eine Struktur ist. Mit anderen Worten, die Vorstellung, dass eine äussere Wirklichkeit unabhängig von Menschen existiert, setzt voraus, dass wir in einer Beziehungswirklichkeit leben. Wir werden ohne äussere Wirklichkeit nicht existieren können, aber äussere Wirklichkeit existiert ohne uns.
A: Also, die äussere Wirklichkeit ist die materielle Welt, die von uns Menschen völlig unabhängig ist. Innere Wirklichkeit ist die Art und Weise, wie ich subjektiv die äussere Wirklichkeit wahrnehme und das Wirklichkeitsmodell ist das Modell der äusseren Wirklichkeit in meinem Gehirn, die ich wahrnehme. Die subjektive Wirklichkeit, die ich gerade jetzt wahrnehme, existiert nur in meinem Kopf, als Teil des Wirklichkeitsmodells meines Gehirns. Dazu gehören nicht nur bearbeitete Höhepunkte im Hier und Jetzt, sondern auch eine Ansammlung im Voraus aufgenommener ferner und vergangener Ereignisse, Täuschungen, Auslassungen und Halluzinationen, die sich hervorrufen lassen, die sich wieder reaktivieren lassen. Und wenn ich denke, dass ich mir meiner selbst bewusst bin, ist dieser Zustand mehr als nur bewusst zu sein, weil das Wirklichkeitsmodell meines Gehirns ein Modell von mir selbst und meiner Beziehung zur Aussenwelt enthält. Wenn ich meine Augen wieder schliesse, dann ist das, was ich sehe ein Bild, das subjektiv ist und mir ein Bild von äusserer Wirklichkeit zeigt. In meinem Bild stehen auch alle Dinge und Gegenstände in der Küche. Aber meine Distanz zu diesen ist verzerrt. Ich kann die richtige Distanz zum Kühlschrank nicht einschätzen, obwohl ich den Kühlschrank als ein drei dimensionaler Gegenstand wahrnehme. Ich erfahre gerade jetzt das Modell der räumlichen Wirklichkeit, nämlich mein Wirklichkeitsmodell in mir und das subjektive Gefühl meines Blicks auf einen drei dimensionalen Kühlschrank. Eigentlich scheint es, dass mein Intellekt das Wirklichkeitsmodell in meinem Gehirn anschaut. Jetzt öffne ich meine Augen wieder und hole mir Wasser, willst du auch etwas?
R: Ja, auch Wasser gerne.
A: Ich bringe dir das Wasser und lege es auf den Tisch!
R: Allerdings gibt es zwischen der äusseren und inneren Wirklichkeit eine dritte, dazwischenliegende Konsenswirklichkeit.
A: Was ist Konsenswirklichkeit?
R: Sie ist die Beschreibung der materiellen Welt. Konsenswirklichkeit ist eine gemeinschaftliche Erfahrung. Das ist die Version der Wirklichkeit, die wir Lebewesen hier auf der Erde angeeignet haben: Die drei dimensionalen Orte und Bewegungen makroskopischer Objekte sowie andere alltägliche Merkmale der Welt, für die wir eine gemeinsame Beschreibung mithilfe vertrauter Konzepte aus der Physik, Mathematik, Chemie und Biologie haben. Chemie verwandelt sich in Biologie. Physik misst und Mathematik beschreibt die Gleichungen.
A: Würdest du ein Beispiel machen?
R: Du hast sicher vom gekrümmten Raum und von gekrümmter Zeit gehört?
A: Ja, ich habe davon gehört.
R: Der gekrümmte Raum in der mathematischen Beschreibung der äusseren Wirklichkeit entspricht der Gravitation der Konsenswirklichkeit.
A: Was ist modellabhängiger Realismus?
R: Nach dem modellabhängigen Realismus interpretieren unsere Gehirne die von unseren Sinnesorganen gelieferten Signale, indem sie ein Modell der Aussenwelt anfertigen. Wir bilden mentale Konzepte von allen möglichen Dingen – unserem Haus, Bäumen, anderen Menschen, dem elektrischem Strom, der aus der Wandsteckdose kommt, Atomen, Molekülen und anderen Universen. Diese Konzepte sind die einzige Wirklichkeit, die wir erkennen können. Es gibt keinen modellabhängen Test der Wirklichkeit. Daraus folgt, dass ein gut konstruiertes Modell eine eigene Realität schafft.
Quellen
Broers, Dieter. Gedanken erschaffen Realität. München: Wilhelm Heyne, 2013.
Dawkings, Richard. Der Zauber der Wirklichkeit. Berlin: Ullstein, 2012.
Hawking, Stephen. Der grosse Entwurf. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2010.
Tegmark, Max. Unser Mathematisches Universum. Berlin: Ullstein, 2015.