Ein Mensch in seiner Gestalt

R: Guten Morgen.

A: Du bist wach! Ich schenke dir einen Schwarztee ein.

R: Danke für den Tee.

A: Wie hast du geschlafen?

R: Gut und ruhig.

A: Dann kann ich dich etwas fragen.

R: Was?

A: Wer ist der Mensch?

R: Der Mensch ist ein Lebewesen.

A: Und wie wird dieses Lebewesen definiert?

R: Der Mensch ist kein Ding, das man gewissermassen von aussen beschreiben könnte. Man kann ihn nur aus der persönlichen Erfahrung des Menschseins selbst heraus definieren. Die Frage, wer der Mensch ist, führt somit zu Frage, wer bin ich? Und die Antwort kann nicht anders sein als das, dass ich ein Mensch bin. Die meisten Menschen haben freilich diese Identität nicht erlebt. Sie machen sich alle möglichen Bilder von sich selbst, von ihren Eigenschaften und ihrer Identität. Gelegentlich antworten sie auch: „Ich bin Lehrer“, „Ich bin Arbeiter“, „Ich bin Arzt“; aber diese Auskunft über die Tätigkeit, nämlich über die gesellschaftliche Funktion eines Menschen sagt uns nichts über ihn selbst und bringt keine Antwort auf die Frage: Wer ist der Mensch?

R: Der Mensch wird gemäss seiner gesellschaftlichen Stellung definiert. Möchtest du noch einen Tee?

A: Gerne! Der Mensch lässt sich auf verschiedene Weise definieren. Er wird nämlich von zwei Arten der Leidenschaften und Triebe bestimmt. Die eine Art hat biologische Ursprünge und ist bei allen Menschen im Wesentlichen gleich. Sie umfasst das Bedürfnis nach Überleben und darunter fällt das Bedürfnis, Hunger und Durst zu stillen, das Bedürfnis nach Schutz, nach irgendeiner Form der Gesellschaftsstruktur und in weit weniger zwingendem Mass – nach Sexualität. Die Leidenschaften der anderen Art sind nicht biologisch verwurzelt und nicht für alle Menschen dieselben. Sie entstehen aus verschiedenartigen Gesellschaftsstrukturen. Solche Leidenschaften sind Liebe, Freude, Solidarität, Neid, Hass, Eifersucht, Konkurrenzdenken, Gier und so weiter. Im Gegensatz zu biologisch begründeten Leidenschaften sind die genannten gesellschaftlich verwurzelten Leidenschaften ein Produkt der jeweiligen Gesellschaftsstruktur.

A: Der Tee ist bereit, ich stelle ihn auf den Tisch. Zucker und Mich sind auf dem Tisch vorhanden.

R: Danke für den Tee. Eine weitere Definition des Menschen besagt, er sei jenes Lebewesen, bei dem die instinktive Steuerung des Handels ein Minimum erreicht habe. Sicher finden sich Reste instinktiver Motivationen beim Menschen, beispielweise Hunger und Sexualität. Aber nur dann, wenn das Überleben des einzelnen und der Gesamtheit gefährdet ist, lässt sich der Mensch in hohem Mass von Instinkten leiten. Die meisten Leidenschaften, die den Menschen motivieren, etwa Ehrgeiz, Neid, Eifersucht, Rachsucht, entspringen und nähren sich aus gewissen gesellschaftlichen Konstellationen. Die Stärke dieser Leidenschaften lässt sich daran abschätzen, dass sie sogar intensiver sein können als der Überlebensinstinkt. Die Menschen sind bereit, ihr Leben für ihr Hass und Ehrgeiz, aber auch für ihre Liebe und Loyalität hinzugeben. Übrigens, der Tee schmeckt gut.

A: Ja, er schmeckt gut.

R: Der wichtigste Aspekt für eine Definition des Menschen ist der, dass der Mensch mit seinem Denken über die Befriedigung seiner Bedürfnisse hinausgehen kann und zwar hinausreichen kann. Das Denken ist für ihn nicht nur ein Mittel, um gewünschte Ziele und Güter zu erlangen, sondern es ist auch ein Mittel, um die Wirklichkeit des eigenen Daseins und der Umwelt zu entdecken. Mit anderen Worten: Der Mensch besitzt Intelligenz und ist mit Vernunft begabt, mit der er Wahrheit erkennen kann. Wenn sich der Mensch von seiner Vernunft leiten lässt, handelt er sowohl als körperliches wie auch geistiges Wesen zu seinem eigenen Besten. Er kann seine Erfahrung kritisch analysieren und erkennen, was seiner Entwicklung dient und was sie behindert. Er erstrebt eine möglichst harmonische Entfaltung all seiner geistigen und körperlichen Kräfte mit dem Ziel, einen Zustand des Wohl-Seins zu erreichen.

A: Es gibt Hunger und Durst, die Notwendigkeit zu schlafen, Sexualität und manche andere. Die physiologischen oder biologischen Bedürfnisse müssen befriedigt werden. Werden sie aber befriedigt, dann ist scheinbar alles in Ordnung. Nun zeigt sich jedoch, dass dies nicht stimmt. Es kann sein, dass all seine physiologischen und biologischen Bedürfnissen befriedigt werden und dass der Mensch trotzdem nicht befriedigt ist. Wieso? Er hat ja, so scheint es, alles, was er braucht!

R: Ich weiss es nicht, vielleicht fehlt ihm die Aufregung – die Anregung, die seine Aktivität bewirkt. Das Wort „Funktionsfreude“ soll besagen, dass Tätigkeit eine Freude mit sich bringen kann, die darin liegt, dass der Mensch sein Funktionieren geniesst und zwar nicht, weil er dieses oder jenes braucht, sondern weil der Akt des Schaffens, das Ausdrücken der eigenen Fähigkeiten selbst Freude schafft, weil die Tätigkeit selbst eine immanente Befriedigung schafft. Kochst du noch Tee?

A: Ja, das mache ich, dir schmeckt der frische Tee. Worin unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen?

R: Die Qualität des menschlichen Bewusstseins und zwar das Selbstbewusstsein. Die anderen Lebewesen haben sicher ein Bewusstsein, sie haben ein Bewusstsein von den Objekten, sie wissen, das ist dies und das ist jenes. Aber als der Mensch geboren wird, da hat er ein anderes, ein neues Bewusstsein, nämlich das Bewusstsein von sich selbst. Er weiss, dass er ist und das er anders ist, getrennt von der Natur, getrennt auch von anderen Menschen. Er erlebt sich selbst. Er ist sich bewusst, dass er denkt, dass er fühlt. Dafür gibt es – nach allem, was bis jetzt erforscht wurde – im Tierreich keine Analogie. Das ist das Spezifische, das den Menschen zum Menschen macht. Das heisst, der Mensch hat über das Interesse am Praktischen, am Zweckmässigen, am Gebrauchsgegenstand hinaus ein weitergehendes Interesse, er will aktiv sein im Sinne des Schöpfens, des Gestaltens, der Entwicklung von Kräften, die in ihm sind.

A: Unser Tee ist bereit, ich bringe ihn, erzähl weiter!

R: Danke! Nun von dem Moment an, da der Mensch gewissermassen als voller Mensch geboren wird, lebt er, grob gerechnet, für 30`000 Jahre in einer Situation allgemeiner Not, allgemeinen Mangels. Er ist Jäger und gewinnt seinen Lebensunterhalt, indem er Tiere jagt, indem er Sachen sammelt, die er gebrauchen kann und die er findet. Das Leben in diesem Zeitraum ist gekennzeichnet durch Armut, durch Dürftigkeit. Doch dann kommt eine grosse Revolution, nämlich die neolithische Revolution. Sie liegt jetzt ungefähr 10`000 Jahre zurück. Der Mensch fängt zu produzieren an, materiell zu produzieren. Er lebt nicht mehr von dem, was ihm „zufällt“ oder was er erjagen kann, sondern er wird zum Ackerbauer oder Tierzüchter. Er produziert mehr, als er im Moment braucht, indem er sein Denken, seine Geschicklichkeit, seine Voraussicht dazu verwendet, selber etwas herzustellen. Der Mensch beginnt mit seinem Gehirn, mit seiner Einbildungskraft und mit seiner Tüchtigkeit auf die Welt Einfluss zu nehmen und sich Lebensräume zu schaffen. Er plant, er baut vor und sorgt erstmalig für relativen Überfluss. Es blieb nicht lange bei dem einfachen Ackerbau und der Tierzucht. Es entstanden Kulturen, es entstanden Städte. Der Krieg fängt überhaupt erst an im neolithischen Zeitalter, als es nämlich etwas gibt, was wert ist, weggenommen zu werden und als die Menschen ihr Zusammenleben in einer Weise eingerichtet haben, um andere, die etwas haben, was man selbst haben will, zu überfallen. Heute kann genau gesagt werden, dass der Krieg als Institution wohl erst in der Zeit nach der neolithischen Revolution angefangen hat, also als sich die Stadtstaaten gebildet haben mit Armeen, mit Königen, mit der Möglichkeit, Kriege zu führen, Sklaven zu bekommen, Schätze zu rauben und so weiter. Der Tee ist wirklich gut, er gefällt mir, wo hast du ihn gekauft?

A: Ich habe ihn im Bioladen an der Ecke gekauft.

R: Den Menschen ist der relative Überfluss gelungen. Dieser Errungenschaft des neolithischen Zeitalters ist einerseits die Kultur, andererseits den Krieg und die Ausbeutung von Menschen durch Menschen zu verdanken. Später und etwa vor 300 Jahren begann die industrielle Revolution. Die mechanische Kraft ersetzt die Energie von Tieren und Menschen. Die Maschine erzeugt nun die Energie, die bis dahin von Lebendigen geliefert werden musste.

A: Jeder Mensch muss essen und trinken, er hat Kleider, eine Wohnung, …, er braucht und verbraucht vieles, er konsumiert.

R: Gewiss, nun hat jedoch unsere moderne Gesellschaft noch etwas Weiteres entwickelt, was es früher so nicht gab: Sie produziert nicht nur Waren, sondern sie produziert auch Bedürfnisse.

A: Was meinst du damit?

R: Die Menschen hatten immer Bedürfnisse; sie wollten essen und trinken, in schönen Häuser wohnen und so weiter. Aber wenn wir uns heute umschauen, so stellen wir eine zunehmende Bedeutung der Werbung, der Verpackung fest. Die Wünsche der Menschen kommen kaum noch aus ihnen selbst, sondern sie werden von aussen geweckt und gesteuert. Auch der, dem es gut geht, kommt sich arm vor angesichts der Fülle der Angebote, derer er bedürfen soll. Es gibt gar kein Zweifel, dass es der Industrie gelungen ist, Bedürfnisse zu produzieren, die sie befriedigen will, ja muss, wenn sie im gegenwärtigen System existieren, das heisst Profil erzielen soll. Derzeit erlebt sich der Mensch nur als das, was er hat und nicht als das, was er ist.

 

 

 

Quelle

Fromm, Erich. Über die Liebe zum Leben. München: Taschenverlag,1993.