A: Möchtest du einen Tee?
R: Gerne!
A: Ich glaube, dass ein intelligenter Mensch einen Zustand der Reife erreicht, wenn er zum ersten Mal die Gründe seiner Existenz erkennt. Dein Tee ist übrigens bereit, ich stelle ihn auf den Tisch.
R: Danke, das ist nett von dir.
A: Wen uns jemand erzählte, ein Mann habe in der Chicagoer Gangsterwelt ein langes und erfolgreiches Leben geführt, so wären wir berechtigt, einige Überlegungen darüber anzustellen, was für eine Art Mensch er war. Wir könnten erwarten, dass er Eigenschaften hätte wie Härte, Reaktionsschnelligkeit und die Fähigkeit, loyale Freunde, um sich zu sammeln. Dies wären zwar keine unfehlbaren Rückschlüsse, doch man kann sehr wohl einige Aussagen über den Charakter eines Menschen machen, wenn man etwas über die Bedingungen weiss, unter denen er überlebt und sich erfolgreich behauptet hat.
R: Der Tee schmeckt mir gut!
A: Wir und alle anderen Tiere sind Maschinen, die durch Gene geschaffen worden sind. Demzufolge ist ein Affe eine Maschine, die für den Fortbestand von Genen auf Bäumen verantwortlich ist. Ein Fisch ist eine Maschine, die Gene im Wasser fortbestehen lässt. In diesem Zusammenhang haben unsere Gene in einer Welt intensiven Existenzkampfes überlebt – in einigen Fällen mehrere Millionen Jahre. Auf Grund dessen können wir unseren Genen bestimmte Eigenschaften unterstellen und daraus schlussfolgern, dass eine vorherrschende Eigenschaft, die wir bei einem erfolgreichen Gen erwarten müssen, skrupelloser Egoismus ist. Dieser Egoismus des Gens wird gewöhnlich egoistisches Verhalten des Individuums hervorrufen.
R: Kann ich noch einen Tee haben?
A: Klar, ich muss zuerst Wasser kochen – das dauert noch etwas!
R: Kein Problem, ich warte!
A: Eine anscheinend selbstlose Handlung ist eine Handlung, die oberflächlich betrachtet so aussieht. Häufig stellt sich bei genauerem Hinsehen heraus, dass scheinbar selbstlose Handlungen in Wirklichkeit versteckt selbstsüchtige sind. Der Egoismus berührt jeden Aspekt unseres sozialen Lebens, unseres Liebens und Hassens, Kämpfens und Zusammenarbeitens, Gebens und Nehmens, unserer Habgier und unserer Freigebigkeit. Egoismus ist nicht bloss ein Aspekt unseres Verhaltens, sondern unseres Charakters. Er bedeutet, dass wir alles für uns haben möchten; dass nicht Teilen, sondern Besitzen uns Vergnügen bereitet; dass wir immer habgieriger werden müssen, denn wenn Haben unser Ziel ist. Wir sind umso mehr, je mehr wir haben, so dass wir allen anderen gegenüber feindselig sind – unseren Kunden gegenüber, die wir betrügen, unseren Konkurrenten, die wir ruinieren, unseren Arbeitern, die wir ausbeuten möchten. Wir können nie zufrieden sein, denn unsere Wünsche sind endlos. Wir müssen jene beneiden, die mehr haben als wir, und uns vor jenen fürchten, die weniger haben. Nichts ist in der Tat bezeichnender für unseren Egoismus als die Tatsache, dass wir fortfahren, die Naturschätze zu plündern, die Erde zu vergiften und für den Atomkrieg zu rüsten. Wir zögern nicht, unseren eigenen Kindern und Kindeskindern diesen geplünderten Planeten als Vermächtnis zu hinterlassen. Das Wasser kocht, ich lege einen Teebeutel in die Tasse, übergiesse ihn mit dem gekochten Wasser und schon hast du deinen Tee.
R: Danke!
A: Hinter dem Beispiel des Chicagoer Gangsters steckt eine ganz andere Sichtweise, nämlich folgende: Menschen haben sich durch natürliche Selektion entwickelt. Aus den Mechanismen der Selektion scheint bei genauerem Hinsehen zu folgen, dass alles, was sich durch natürliche Auslese entwickelt hat, egoistisch sein muss. Deshalb müssen wir, wenn wir das Verhalten von Menschen und anderen Lebewesen beobachten, damit rechnen, dass sich dieses als egoistisch erweist.
R: Also, ich fühle, ich denke, … Ich, das Ego nehme das Geschehene wahr. Die Wahrnehmung ist egoistisch, weil sie durch mich und das Ego hervorgerufen wird. Sie ist von mir und dem Ego geprägt. Jetzt habe ich aber eine Frage.
A: Was ist deine Frage?
R: Was ist natürliche Auslese?
A: Die Evolution wirkt durch die natürliche Auslese, und natürliche Auslese bedeutet das Überleben der „am besten Angepassten“.
R: Was ist Evolution?
A: Sie basiert auf der Idee, dass die Gene sich langsam und von Generation zu Generation verändern und man sich an die wechselnden Bedingungen auf der Erde anpasst. Die Evolution behauptet zum einen, dass die Menschen durch einen ungeplanten Naturvorgang entstanden sind. Zum anderen sagt sie, dass ihre Eigenschaften nicht nur von der Umwelt geprägt werden, sondern auch der Ausdruck der in der Evolution entstandenen Genen sind. Hast du schon mal von Charles Darwin gehört?
R: Ja, ich habe vom ihm gehört.
A: Die darwinistische Vorstellung der natürlichen Auslese ist die Triebkraft der Evolution. Darwins Argumentation basiert auf drei Hauptfaktoren: Variation, Selektion und Vererbung. Das heisst, erstens muss es Variation geben. Zweitens muss eine Umwelt existieren. Drittens muss es irgendeinen Prozess geben, durch den Nachkommen Eigenschaften ihrer Eltern erben. Wenn diese drei Faktoren zusammenkommen, dann müssen alle Merkmale, die das Überleben in dieser Umwelt fördern, tendenziell zunehmen.
R: Erzähle weiter!
A: Darwins Vorstellung scheint auf den ersten Blick nicht dazu geeignet zu sein, unsere guten Eigenschaften oder unser Gefühl für Moral, Anstand, Mitgefühl und Mitleid zu erklären. Hunger, Angst oder sexuelle Begierde lassen sich leicht mit der natürlichen Selektion begründen, denn sie alle tragen ganz unmittelbar zu unserem Überleben oder zur Erhaltung unserer Gene bei.
R: Wie steht es mit dem quälenden Mitgefühl, das wir empfinden, wenn wir ein weinendes Waisenkind sehen, eine alte, in ihrer Einsamkeit verzweifelte Witwe oder ein Tier, das vor Schmerzen winselt? Woher kommt unser machtvoller Drang, eine anonyme Geld- oder Kleiderspende an Tsunamiopfer auf der anderen Seite des Globus zu schicken, also an Menschen, die wir wahrscheinlich nie kennen lernen werden und die uns im Gegenzug vermutlich keinen Gefallen tun können? Woher stammt der barmherzige Samariter in uns? Ich koche Tee, möchtest du auch?
A: Gerne! Nun Lebewesen, darunter der Mensch, sind das Resultat einer zeitlosen, evolutionären Selektion, die sich auf Selbsterhaltung und Fortpflanzung gründet, Punkt. Normen und Werte kommen in dieser Sichtweise nicht vor und werden als kulturelle Phänomene abgetan. Diese so wunderbar klare Definition verliert jedoch schnell einiges an Eindeutigkeit, wenn wir uns fragen, was dieses „Selbst“ in Selbsterhaltung genau bedeutet. Ist damit die Gattung gemeint? Das Individuum? Oder vielleicht sogar die Gene? Die Antwort hat weitreichende Folgen, denn wenn man die Bedeutung des Individuums hervorhebt, sagt man damit aus, dass die evolutionsbedingte Selektion aufgrund von Kriterien wie Individualismus und damit Egoismus erfolgt.
R: Der Tee ist bereit, ich stelle ihn auf den Tisch, Zucker steht auf dem Tisch.
A: Danke für den Tee.
R: Erzähl weiter!
A: Unsere Identität wird grösstenteils von der Umwelt geprägt, der Mensch ist im Wesentlichen ein Gemeinschaftstier, dessen evolutionäres Erbe sowohl die Neigung zur Solidarität als auch zum Egoismus beinhaltet. Welche Seite die Oberhand erhält, hängt von der Umgebung ab. In jeder Gesellschaft geht es um Austausch, wobei Nahrung und Sex die wichtigsten Tauschobjekte sind. Die gesellschaftlichen Regeln für diesen Austausch basieren auf der körpereigenen Regulierung, die ein Gleichgewicht zwischen Spannungsaufbau und Entladung herstellt. Freud zufolge handelt es sich dabei um das Gleichgewicht wie das etwa bei der Verschmelzung mit und der Trennung von einem anderen sichtbar wird – beides sind Mechanismen, die das Fundament unserer Identität bilden. Der Tee schmeckt gut. Ich muss mich beeilen und mich auf den Weg zur Arbeit machen!
R: Dann wünsche dir einen angenehmen Arbeitstag!
A: Danke, bis bald!
Quellen
Blackmore, Susan. Die Macht der Meme. Heidelberg: Spektrum, 2010.
Dawkins, Richard. Das egoistische Gen. Heidelberg: Spektrum, 2010.
Dawkins, Richard. Der Gotteswahn. Berlin: Ullstein. 2011.
Fromm, Erich. Haben oder Sein. München: Deutsches Taschenbuch, 2011.
Junker, Thomas & Paul, Sabine. Der Darwin-Code. München: Beck, 2009.
Verhaeghe, Paul. Und Ich? München: Antje Kunstmann, 2013.