A: Fangen wir an!
R: Auf jeden Fall! Würdest du mir bitte einen Schluck Wein einschenken?
Stimme:
Schenke, gib durch`s Licht des Weines
Meinem Glase hellen Glanz!
Sänger, singe! Meinem Wunsche
Fügt sich ja die Erde ganz. (1)
A: Es ist ein Rioja und schmeckt sicher gut, Prost!
R: Prost, der Wein fühlt sich auf meiner Zunge angenehm an.
A: Nun, das letzte Mal haben wir uns über Gesundheit unterhalten und ich nehme an, dass wir uns heute über Ernährung unterhalten.
R: Auf der Bühne des Lebens, worauf wir agieren, spielt unser Bedarf an Energie eine essenzielle Rolle. Wir brauchen Nahrung, um überleben zu können. Archäologische und ethnologische Daten deuten darauf hin, dass die Umwelt der frühen Menschen aus Wäldern und Savannen bestand, in denen die pflanzlichen und tierischen Nahrungsmittel verteilt waren. Ein wichtiger Bestandteil ihrer Ernährung war das Fleisch gejagter Tiere. Unsere Vorfahren lebten halbnomadisch als Jäger und Sammler und nutzen auf ihren Wanderstrecken Zelte, bei extremen Witterungsbedingungen auch Höhlen. Ihre Aufenthaltsorte wechselten, wenn sie Tierherden, Pflanzen – und Fruchtvorkommen oder Wasserquellen – im Jahresverlauf folgten. Sie lebten in kleinen, beweglichen Gruppen von rund 30 Mitgliedern, die überwiegend miteinander verwandt waren. Nahrungsmittel und andere Ressourcen wurden geteilt und es gab keine festen Herrschaftsstrukturen. Meist jagten die Männer und die Frauen sammelten. Die Jagdtechniken waren vielfältig: Treibjagden in Sümpfen und auf den Klippen, die Nutzung von Fallen und Speeren, die später als Speerschleudern eine noch grössere Reichweite erzielten, und seit etwa 20 000 Jahren auch der Einsatz von Pfeil und Bogen. Für das Sammeln unterirdischer Nahrungsquellen wurden Grabstöcke verwendet. Sowohl das Jagen als auch das Sammeln verlangten grosse Ausdauerleistung und folgten einem Rhythmus von ein bis zwei Tagen Jagen bzw. Sammeln und ein bis zwei Tagen Ruhe.
Stimme:
Im Pokal sah ich des Freundes
Holden Wagenwiderschein:
O Unkundiger der Wonne,
Die da liegt in meinem Wein! (1)
A: Möchtest du noch einen Schluck Wein?
R: Sehr gerne, danke. Eben, erst nach der bislang letzten Eiszeit begannen die Menschen vor rund 10 000 Jahren allmählich zu einer effektiveren Form der Nahrungsgewinnung, zu Ackerbau und Viehzucht, überzugehen, was zur Folge hatte, dass sich eine neue Lebensweise mit Arbeitsteilung und Staatenbildung durchsetzte («Zivilisation»). Seit der Geburt der Landwirtschaft hat der Mensch Pflanzen und Tiere genetisch verändert, indem er diejenigen mit den meisten Kalorien und wenigsten Giftstoffen, die besonders leicht anzubauen und zu ernten waren, selektiv gezüchtet hat. Seit der Neolithischen Revolution wurden neue Nahrungsquellen entwickelt – vor ca. 10 000 Jahren Getreide und Milch, vor ca. 5000 Jahren Pflanzenöle und vor etwa 500 Jahren Zuckergewinnung. Es fand eine Veränderung der Hauptnahrungsquellen statt. Anstelle von Wildtieren und -pflanzen werden nun in ihren Eigenschaften veränderte Zuchttiere und Zuchtpflanzen verwendet. Einfache Kohlenhydrate (Mehl, Zucker), Fett und Milchproduckte traten an die Stelle komplexer Kohlenhydrate aus Gemüse und Früchten und proteinreicher Nahrungsquellen wie Fleisch und Fisch. Die Herstellung und Verarbeitung der Nahrungsmittel nahmen vor allem seit der Industriellen Revolution nie da gewesene Ausmasse an. Zuchttiere werden hauptsächlich mittels Getreidefütterung in Ställen gemästet, Fette werden gehärtet und in Formen überführt, die es in der Natur nicht gibt, Vollkornmehle werden durch Auszugsmehle abgelöst, grosse Mengen an raffiniertem Zucker und raffinierten Pflanzenölen stehen zur Verfügung, Kochsalz wird bei mehr als 90 Prozent aller industriell verarbeiteten Nahrungsmittel zugegeben.
Stimme:
Dessen Herz durch Liebe lebt,
Wird den Toten nie gestellt:
Meine ew`ge Dauer stehet
Deshalb in dem Buch der Welt. (1)
A: Hast du Durst?
R: Ja, kann ich Wasser haben?
A: Ich fülle dein Glas mit dem Wasser aus dem Krug!
R: Danke, das Wasser schmeckt anders!
A: Ich habe dem Wasser etwas Zitronensaft hinzugefügt.
R: Es fühlt sich gut an. Nun, seit der Agrarevolution liefern die Getreide Kohlenhydrate in grossen Mengen, und Milch ist ein Protein- und kalziumreiches Nahrungsmittel, das unabhängig von Wetter und Jahreszeiten als Energie- und Mineralstoffquelle nutzbar ist. Um in der Liga der Lebendigen spielen zu können, brauchen wir Nahrung.
A: Als lebender Organismus müssen wir uns ernähren. Ernährung ist deshalb ein Konzept, weil sie ohne eine Umwelt nicht existieren würde. Interessanterweise existieren wir ohne eine Umwelt gar nicht. Erzähle weiter!
R: Neben Alterung und Krankheitserregern ist Hunger ein ständiger Begleiter der menschlichen Existenz. Unsere Vorfahren mussten immer den Hunger bekämpfen. Weit bis ins 19. Jahrhundert hinein konnte eine Missernte selbst privilegierte Teile der Welt ins Elend stürzen. Die Historiker dokumentierten, dass Bauern im Europa der Vormoderne alle paar Jahrzehnte von Hungernöten heimgesucht wurden. Die verzweifelten Bauern ernteten das Getreide, bevor es reif war, assen Gras und strömten in die Städte, um zu betteln. Selbst in guten Zeiten bezogen zahlreiche Menschen das Gros ihrer Kalorien aus Brot oder Haferschleim, und das war nicht gerade viel.
Stimme:
Viele derjenigen,
die nicht vor Hunger starben,
waren zu schwach zum Arbeiten,
und daher zur Armut verdammt. (2)
R: In jüngerer Zeit können wir uns jedoch über einen weiteren und kaum beobachteten Fortschritt freuen: Trotz der expandierenden Bevölkerungszahlen können sich viele Länder selbst ernähren. Am augenscheinlichsten ist dies in China, wo 1,3 Milliarden Menschen nun Zugang zu durchschnittlich 3100 Kalorien pro Tag haben. Die über eine Milliarde Einwohner Indiens erhalten durchschnittlich 2400 Kalorien pro Tag. Und die Zahl für den afrikanischen Kontinent liegt mit 2600 zwischen den beiden Werten. Laut Daten, die mir zur Verfügen stehen, beträgt gegenwärtig die Unterernährung in den Industriestaaten unter 5 Prozent und in den Entwicklungsländern 13 Prozent. Obwohl 13 Prozent eine beachtliche und alarmierte Zahl ist, ist aber immer noch besser als 35 Prozent, was 45 Jahre zuvor der Fall war. In den 70 Jahren seit 1947 ist die Weltbevölkerung um fast fünf Milliarden Menschen gewachsen, und das bedeutet: In der Zeit, in der die Welt den Hunger eindämmte, füllte sie zugleich Milliarden zusätzliche Mägen.
Stimme:
Holder Wind, ziehst du vorüber
An der Freunde Rosenflur;
O so bring von mir dem Liebling,
Meine besten Grüsse nur. (1)
A: Ich schenke dir noch Wein ein, und Prost!
R: Danke dir, Prost. Nicht nur chronische Unterernährung ist auf dem Rückzug, sondern auch katastrophale Hungersnöte werden weniger. Die Gefahr von Hungersnöten scheint in allen Regionen ausserhalb von Afrika nahezu gebannt zu sein. … In Asien und Europa gehört Hunger als endemisches Problem anscheinend der Vergangenheit an. Zurzeit führt eine Missernte nicht mehr zwangsläufig zu einer Hungersnot. In jüngerer Zeit konnte man die meisten Nahrungsmittelkrisen auf Grund von Dürre oder Überschwemmungen durch eine Kombination von lokalen und internationalen humanitären Massnahmen erfolgreich bekämpfen. … Es gibt immer noch Hunger auch unter den Armen in den Industierstaaten, und es gab Hungersnöte 2011 in Ostafrika, 2012 in der Sahelzone und 2016 im Südsudan, ausserdem beinahe Hungersnöte in Somalia, Nigeria und im Jemen. Doch diese waren von einer anderen Grössenordnung als die Katastrophen, die in früheren Jahrhunderten regelmässig auftraten und viel mehr Menschenleben forderten.
Stimme:
Derjenige, der bewirkt;
Zwei Kornähren, zwei Grashalme, mehr
Auf dem Boden wüchsen:
Erwerbe sich ein grösseres Verdienst um die Menschheit,
Und der, der die Umwelt bewahrt,
Erweise seinem Planeten einen bedeutenderen Dienst. (2)
R: Auf Fruchtwechselwirtschaft sowie verbesserte Pflüge und Sämaschinen folgte die Mechanisierung, bei der fossile Brennstoffe Mensch- und Tiermuskeln ersetzen. Mitte des 19. Jahrhunderts brauchten 25 Männer einen ganzen Tag, um eine Tonne Getreide zu ernten und zu dreschen. Heute schafft das eine Person mit einem Mähdrescher in sechs Minuten. Jeder Gemüsebauer erlebt, wie eine ganze Menge auf einmal reif wird, um schnell zu verderben oder von Ungeziefer gefressen zu werden. Heutzutage lösen die Maschinen dieses von der Natur auftretende Problem. Eisenbahnen, Kanäle, Lastwagen, Speicher und Kühlsysteme ebneten die Gipfel und Täler des Nahrungsangebots und passten es der Nachfrage an, koordiniert durch die im Preis erhaltene Information.
Stimme:
Frage Ihn, warum er meiner
So mit Vorsatz nicht gedenkt?
Kömmt doch wohl von selbst die Stunde,
Die mich in`s vergessen senkt. (1)
A: Noch einen Schluck Wein?
R: Gerne, der Wein gefällt mir. Dank der grünen Revolution benötigt die Welt nun weniger als ein Drittel der Ackerfläche, die sie vorher brauchte, um eine bestimmte Menge an Nahrungsmitteln zu produzieren. Den Zugewinn kann man auch noch anders ausdrücken: Gemäss der Daten: Von 1961 bis 2009 vergrösserte sich der Umfang der Anbaufläche um 12 Prozent, während sich die Menge der angebauten Nahrung um 300 Prozent vermehrte. Damit wurde nicht nur der Hunger bekämpft – davon, dass nun weniger Land mehr Nahrung erzeugt, hat insgesamt gesehen auch unser Planet profitiert. Wie alle fortschrittlichen Entwicklungen geriet die grüne Revolution unter Beschuss, kaum dass sie begonnen hatte. Hightech-Landwirtschaft, so die Kritiker, verbrauche fossile Brennstoffe und Grundwasser, verwende Herbizide und Pestizide, zerstöre die traditionelle Subsistenzwirtschaft, sei biologisch unnatürlich und verschaffe Konzernen Profite. Angesichts der Tatsache, dass sie Milliarden Menschenleben gerettet und dazu beigetragen hat, verheerende Hungersnöte ins Reich der Geschichte zu verbannen, ist die grüne Revolution nicht erfolgreich und es scheint, dass sie dem Planeten Schäden zugefügt hätte. Wichtig ist, die Schäden zu begrenzen und mit der Hilfe der Wissenschaft den Hunger im 21. Jahrhundert verschwinden zu lassen.
Stimme:
Meines holden Lieblings Auge
Hat den Rausch für schön erkannt;
Darum gab man auch dem Rausche
Meine Zügel in die Hand. (1)
A: Noch ein Schluck Wasser, oder einen Schluck Wein?
R: Beides, das Wasser kann ich gut gebrauchen und den Wein trinke ich mit Vergnügen!
A: Ich habe eine Frage!
R: Was ist deine Frage?
A: Was soll ich essen?
R: Beim Essen geht es zunächst um die ausreichende, richtig zusammengesetzte, vielfältige und hochwertige Zufuhr von Energie und Nährstoffen. Dies sind unentbehrliche Voraussetzungen für das Überleben und Wohlergehen eines Organismus. Nahrung ist mehr als reine Energie- und Nährstoffaufnahme! Es genügt nicht, die richtigen Inhaltsstoffe in ausreichender Menge zu sich zu nehmen, sondern um wirklich satt, d. h., zufrieden mit einer Mahlzeit zu sein, muss sie auch soziale und emotionale Bedürfnisse befriedigen.
A: Ich habe noch eine neue Frage. Wie viel soll ich essen?
R: Die Antwort auf diese Frage ist aus evolutionsbiologischer Sicht verhältnismässig einfach zu geben. Wenn die Aufnahme von Energie nicht durch Mangelsituationen automatisch begrenzt und durch ständige Bewegung reguliert wird, führt die genetisch fixierte Präferenz für energiereiche Nahrung zu einem Energieüberschuss. Es wird im Körper als Fettgewebe gespeichert. Als Lösung des Problems bleibt nur, entweder regelmässige Mangelsituationen selbst zu erzeugen sprich, weniger Mahlzeiten pro Tag, Fasten über einen bestimmten Zeitraum, kleinere Portionen oder in anderer Weise darauf zu achten, dass die aufgenommene und die verbrauchte Energie mengenmässig ausgeglichen ist. Dies lässt sich allerdings durch regelmässige Bewegung und Sport leichter und mit mehr Freude erreichen.
Stimme:
Lass, Hafis, das Körnchen fallen,
Das dir an dem Auge hängt
Jenes grüne Meer des Himmels
Und sein Schiff, der neue Mond. (1)
A: Machen wir Schluss?
R: Habe ich nichts dagegen!
A: Dann träume schön!
R: Danke, gleichfalls
Quellen:
(1) -Hafis, persisch ausgesprochen, Hàfez (1315-1390) ist einer der bekanntesten persischen Dichter und Mystiker
(2) -Schreiber
Junker, Thomas & Paul, Sabine. Der Darwin-Code. München: Beck, 2009.
Pinker, Steven. Aufklärung Jetzt. Frankfurt am Main: Fischer, 2018.